Ich erspare mir dieses Jahr das Geschwafel von "data drives value" oder wie "my customer engagement meinen company value increasen kann". Was meinen "company value" tatsächlich voranbringt? Die eingesparten Reisekosten.

Rock 'n' Roll ist das schon lange nicht mehr

Das einzige, was die Dmexco bei mir seit Jahren vorantreibt, ist ein böser Hang-over am Morgen nach der Party bei den "Online Marketing Popstars". Rock 'n' Roll ist das schon lange nicht mehr. Eher Fahrstuhlmusik. Ansonsten bleibt da nicht viel. Außer dem Unbehagen mit Blick auf die wirklich wichtigen Dinge, die man alternativ hätte unternehmen können.

Sollte nun der Eindruck entstanden sein, es ginge hier um ein weiteres pauschales Agentur-, Vermarkter-, Kollegen- oder Digital-Bashing: Das ist nicht meine Intention. Noch weniger diskreditiere ich die geschätzten Kollegen und Kolleginnen in den verschiedenen Gremien, allen voran dem OWM, für ihren unermüdlichen und wertvollen Einsatz, sich der Probleme in der digitalen Medialandschaft anzunehmen! Und ich stelle auch nicht in Frage, dass einige Marken – meistens die üblichen Verdächtigen – gute Erfahrungen machen. Die Frage ist doch, was eine gute Erfahrung ist, sprich: Woran messe ich gute Erfahrungen? Das muss jeder für sich entscheiden.

Wir sind nicht Mitglied im Club der digitalen Big Spender

Wir bei Müller machen nach unseren Qualitätsmaßstäben keine guten Erfahrungen. Deshalb sind wir nicht Mitglied im Club der digitalen Big Spender. Stimmt schon, wir können echt manchmal schwierig sein und man kann uns bestimmt auch so manches nachsagen. Aber Ignoranz oder chronische Verweigerungshaltung gehören nicht zu unseren Assets. Die bisherigen Strategien und Konzepte haben uns – mal euphemistisch ausgedrückt – bisher nicht überzeugen können, oder hätten, schlimmer noch, nachweislich den "company value decreast". Ja genau, de-creast. Gutes Mediabudget vernichtet. Frag' doch mal die Agentur oder den Vermarkter, ob sie sich am Erfolg messen lassen möchten. Sehr erhellend. Sich mit dem Kunden das Risiko bei Dienstleistungen und Produkten, deren Wirkungsnachweis häufig noch zu erbringen ist, teilen? Och nöööö du. Der Glaube ans eigene Produkt gone with the wind.

Da ist es doch erfrischend zu lesen, dass der größte Werbekunde der Welt dann mittlerweile auch erkannt hat, dass Targeting nicht funktioniert. Ja was bitte hat denn da so lange gedauert? Spannend in diesem Zusammenhang auch die Frage, wie eine Abverkaufsconversion von Facebook Ads für einen FMCGler ohne POS im Internet seriös und isoliert gemessen werden kann. Hände hoch, wer das Rezept kennt. Niemand? Komisch.

Das Geheule um das digitale "Bordell"

Und es wird noch besser: Kaum reklamiert P&G das Targeting, merkt bereits der erste schlaue Strategieberater an, Streuverluste seien häufig Streugewinne. Hoppla, das ging jetzt ein wenig schnell. Bedeutet das etwa, die bisher bezahlten Targetingaufschläge dienten nicht der Minimierung von Streuverlusten, sondern der Maximierung der Streugewinne? Ernsthaft?

Seit Jahren ist das Geheule um das digitale "Bordell", mit seinen regelmäßig beklagten, vermeintlich mafiösen Strukturen, dem ganzen angeblichen Lug und Betrug, groß. "Heul' leise, Chantal", sage ich nur. Seit Jahren wird geredet, gefachsimpelt und beim zehnten Vodka Tonic stellt dann auch der ein oder andere vermeintlich überzeugte Digitalmacher und -entscheider fest, "supergeil" ist "everything" dann doch nicht. Vielleicht sind diese "Rockstar-", sorry: Popstar-Gelage doch nicht so schlecht. Schade, möchte sich doch in der Regel am nächsten Morgen keiner mehr so recht erinnern. Und so geht die Party Jahr für Jahr weiter. Täglich grüßt das Murmeltier.

Immer und immer wieder das gleiche Gewäsch

Seit Jahren ähneln sich die Themen. Immer und immer wieder das gleiche Gewäsch: 2013 – "Turning Visions into reality", gähn. 2014 – "Entering new Dimensions", würg. 2015 – "Bridging Worlds", ich möchte von der Brücke kotzen. Jetzt wo ich es so schreibe, das Motto 2013 klang tatsächlich vielversprechend.

Dabei könnte das Motto so einfach sein: "Digital is everything? – Is every banner visible?" Mir fällt da bestimmt auch noch was Passendes zum Social-Media-"Bordell" ein, das seit neustem ja Influencer Marketing heißt. Wie wäre es mal mit einem zielführenden und ehrlichen Motto? Die hunderttausenden von Manntagen, die voll creative dafür aufgewendet werden, sich zu überlegen, wie man für die Messe die Fahrstuhlmusik zur Rockhymne pimpt, ohne dass es einer merken soll, könnte man auch für echte Inhalte verwenden. Ein Motto muss her, das alle verpflichten würde, mehr als nur Lippenbekenntnisse abzugeben. Bestenfalls würde es dazu führen, dass der ein oder andere Sandburgenbauer, Verzeihung, selbsternannte Marktführer, sich Sorgen um sein Geschäftsmodell machen müsste. Eine erfrischende Vorstellung.

Hatten wir doch alles schon, mag man jetzt denken. Und wir reden doch schon seit Jahren über 50:1 und 80:1 etc etc. By the way, meines Erachtens sowieso der völlig falsche Ansatz. In Print würde sich ja auch keiner auf die Diskussion einlassen, zu akzeptieren, wenn wir mal die halbe Seite der Anzeige rausreißen. Aber immerhin. Ich weiß, Sichtbarkeit bedeutet auch nicht Sichtbarkeitsdauer und am wenigsten Aufmerksamkeit. Und – Himmel Herrgott, ja! – vergleichen kann man das alles ja auch nicht.

Aber irgendwie werde ich trotzdem das Gefühl nicht los, dass das doch alles irgendwie zusammenhängt. Und überhaupt, wo wir schon dabei sind: Gelten etablierte Planungsstandards in der digitalen Welt nicht? 2,3 GRP in TV zu machen ist Schwachsinn, machste die digital, ist das ok. Reichweite, OTS? Nur für analoge Medien wichtig. "'Türlich, 'türlich, sicher Dicker, 'türlich, 'türlich – alles klar", summt es mir im Kopf.

Selbstverliebte Marketingfuzzis produzieren Schwachsinn

Haben wir ja im Prinzip alles schon durch. Und trotzdem werfen viele Werbekunden gutes Mediageld weiterhin in den digitalen Hochofen. Die Beweggründe kann ich nur erahnen. Ist halt fancy. Oder das Budget muss halt weg. Regelmäßig ist das larmoyante Genörgel vieler Werbekunden groß. Nach Konvergenzwährung. Mehr Qualität. Transparenz. Jahr für Jahr gelobt die Branche Besserung. Jahr für Jahr verändert sich nichts.

Außer, dass es immer schlimmer wird. Da dreht dann jemand immer am Lautstärkeregler im Fahrstuhl. Erst waren es Banner. Dann In-Stream, weil TV angeblich nicht mehr funktioniert. Dann brauchten wir Fans. Interaktion! Plötzlich brauchten wir Mediageld. Weil die Interaktion doch nicht so geil funzt wie versprochen. Und das lag nicht immer nur am Algorithmus. Dann fingen alle an mit – tataaaaaa – Contentmarketing. Das ist jetzt zwar gemein, aber selbstverliebte Marketingfuzzis produzieren, meistens für viel Geld, größtenteils Schwachsinn, der keine Sau interessiert.

Wir haben es auch mal ausprobiert

Ich geb's ja zu: Haben wir auch mal ausprobiert. Machen wir jetzt nicht mehr. Jetzt sind es Influencer. Die wir teils fürstlich dafür bezahlen, dass Sie ihren 5.000.000 Followern, von denen keiner so genau weiß, wer die eigentlich sind, heute noch mal schnell erzählen, wie mega hammer stark der neue Joghurt mit der Ecke schmeckt. Und morgen der Keksriegel. Und übermorgen die Tütensuppe. Very authentic. Woohoo. Swag. Wie blöd sind wir eigentlich?

Sollte jetzt der Eindruck entstanden sein, ich hielte mich selbst für das Maß aller Dinge: Tue ich nicht. Aber ich erkenne gute Ideen. Auch schlechte.

Es ist so klar wie die vorgestern vom Influencer getestete Kloßbrühe: So lange wir nicht beginnen, uns wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren, wir weiterhin – häufig unreflektiert – dem digitalen Wahn verfallen, Agenturen ihrem Beratungsauftrag immer seltener gerecht werden, wir keine ernsthaften und empfindlichen Konsequenzen ziehen, nicht den Mut aufbringen, den desolaten Zuständen der Branche wirklich ernsthaft und nachhaltig den Kampf anzusagen, solange wird sich nichts ändern. Punkt. Bis einer weinen muss, quasi. Oder irgendwann mal das Budget ausgeht oder die Jahr für Jahr dahinschmelzenden TV-Reichweiten (man beachte: Die Reichweiten schmelzen. Die Kosten wachsen) tatsächlich nicht mehr ausreichen.

Bis dahin mache ich mir Gedanken über gute und unique Kommunikation, bei der wir zugegebener Maßen auch schon mal besser waren. Und über eine smarte Kommunikations- und Mediastrategie. Über schlaue TV Ansätze. Plakat, Radio, Kino, Print und ja, auch digital.

In der Südsee, nicht in Köln.

Sonnige Grüße

Christian Meyer, Senior Media Manager Europe/ Head of Digital,  Müller Media & Service AG

Über das Unternehmen und den Autor: 

Die Müller Media & Service AG ist Teil der Unternehmensgruppe Theo Müller. Aufgabe ist es, die Media-Investitionen der Konzerntöchter zu koordinieren und optimieren. Als Senior Media Manager Europe und Head of Digital verantwortet Christian Meyer einen Jahresetat von rund 100 Millionen Euro. 


Autor: W&V Gastautor:in

W&V ist die Plattform der Kommunikationsbranche. Zusätzlich zu unseren eigenen journalistischen Inhalten erscheinen ausgewählte Texte kluger Branchenköpfe. Eine:n davon habt ihr gerade gelesen.