"Quote Of The Day": Die neue Kolumne von Christian Hanke:
Ein Workshop-Satz, den ich nicht vergessen werde
Christian Hanke berät Marken und Medien bei Produktentwicklung und digitaler Transformation. Bei einem Workshop hat er neulich eine Frage gehört, die viel öfter gestellt werden sollte. Weil sie ganze Projekte retten kann.
Kennen Sie das? Zum ersten Mal haben Sie alle organisatorischen, budgetären und kulturellen Hürden übersprungen und ein tolles digitales Produkt entwickelt. Und dann läuft die Nutzung schleppend an. Die Kritiker des Projekts wussten das natürlich von Anfang an. Aber woran liegt es, dass viele Online-Magazine, digitale Services oder Produkte nicht automatisch abheben?
Den mit Abstand häufigsten Grund habe ich vor kurzem wieder selbst erlebt. Workshop-Gewusel, die Teilnehmer schlürfen noch den letzten Kaffee nach der Mittagspause, gleich geht es los. Aufgabe ist der Relaunch eines der größten Wissenschaftsverlage in Boston, nur ein Steinwurf von MIT und Harvard University entfernt. Genug Forscher im Raum, um eine Rakete zu bauen – aber eine Frage bereitet allen Kopfzerbrechen: Wie machen wir das Auffinden wissenschaftlicher Inhalte einfacher und das Entdecken attraktiver?
Der Workshop nimmt seinen Lauf: Es werden Post-its bemalt, Marshmellows mit Spaghetti verklebt, Aluminiumfolien gefalzt und liebevolle Prototypen gebastelt. Der Design-Thinking-Prozess läuft wie auf Schienen. Doch plötzlich kommt es zum außerfahrplanmäßigen Halt: Ein Teilnehmer möchte unbedingt ein Feature durchsetzen, das er schon immer besonders notwendig fand. Und zwar gegen alle Erkenntnisse aus Interviews mit den Nutzern.
Dann fiel ein Satz, den ich nicht vergessen werde:
"Well, can we change the User Need?"
Hm, kurz nachgedacht: "Nope!"
Denn: Ja, Sie sind Experte in Ihrem Bereich, aber es geht hier nicht um Sie und Ihre Expertise.
Es geht um Ihre Nutzer, und die sind in Wahrheit unsere Auftraggeber. Es geht um deren Bedürfnisse, deren Kontext – das ist in Wahrheit unser Briefing. Und nur auf dieser Basis können wir ein sinnvolles, nützliches und schönes digitales Produkterlebnis entwickeln.
Fakt ist: Zu oft werden wunderbar interaktive Workshops umgesetzt, alle denken mit den Händen, das Momentum ist enorm – aber alles geschieht aus der falschen Perspektive: der eigenen.
Dabei geht es in erster Linie um echte Empathie und einen reflektierten Perspektivwechsel vom "Ich wünsche mir Feature A" zu "Wie könnten wir dieses Bedürfnis unserer Nutzern besser stillen?"
In der sogenannten "digitalen Transformation" braucht es in den internen Teams ein tiefes Verständnis dafür, wie erfolgreiche digitale Produkte und Erlebnisse entwickelt werden, die ein echtes Bedürfnis treffen. Daumenregel für den nächsten Workshop: Vorschnelle Feature-Ideen lassen sich als Substantive entlarven: "Als Nutzer möchte ich eine pinke Hamburger-Menü-Navigation rechts oben". Echte (Nutzer-)Bedürfnisse dagegen werden oft – ganz wörtlich – verbalisiert: "Als Nutzer möchte ich mich schnell orientieren".
Der Tag in Boston endet mit fantastischen Ideen, liebevoll auf Post-its skizziert. Allerdings aus einer anderen Perspektive und mit Verständnis für die echten Bedürfnisse und Kontexte der Nutzer. Die teilnehmenden Wissenschaftler und das Produkt-Team haben den Perspektivwechsel vollzogen. Aber vor allem dabei viel miteinander gelacht.