Cannes Lions:
Eine Zwischenbilanz aus nicht ganz so deutscher Sicht
Alle zwei Jahre fällt Cannes mit Fußball zusammen. Das gilt trotz Corona. Und so hat sich Kristoffer Heilemann, Kreativchef von BBDO Düsseldorf, die Analogie zum Vorbild genommen, um Bilanz zu ziehen.
Auch wenn Cannes immer etwas Besonderes ist, ist Cannes dieses Jahr definitiv ganz besonders. Das Festival findet digital statt.
Und irgendwie will bei mir nicht die richtige Stimmung aufkommen. Ich vermisse den Gang ins Palais, um die endlosen Spalten in den "Lions Daily News"-Heftchen nach deutschen Gewinnern zu scannen. In der Hoffnung, die eigene Agentur zu finden. Niemanden braucht man – im besten Fall überschwänglich – anzurufen. Alle haben – pling – alle Ergebnisse. Wie vielen anderen fehlen auch mir das gemeinsame Feiern von Kreativität – und vor allem die Emotionalität.
Vielleicht muss man sich auch erst noch an ein digitales Festival gewöhnen? Nein, ganz bestimmt nicht. Hoffentlich.
Immer wieder Fußball
Wenigstens gibt es eine Konstante: Fußball. Wie jedes zweite Jahr fällt die WM oder EM in den Zeitraum des Festivals – ein fantastische Mischung!
Heute ist Halbzeit in Cannes. Wie lief es bisher für die deutschen Agenturen? Deutschland hat Stand Dienstagabend 29 Löwen gewonnen. Darunter sieben goldene. Sportlich gesehen also ganz gut.
Was mich an Cannes immer fasziniert hat, ist aber weniger der sportliche Vergleich, es sind die Arbeiten. Jedes Jahr weiß man wieder, warum man eigentlich den schönsten Job auf der Welt hat. Und vor allem, dass Kreativität immer wieder neu die Grenzen verschiebt und zeigt, was möglich ist.
Deutsches Handwerkskönnen
Bei den deutsche Arbeiten fällt mir auf, dass das Craft-Niveau dieses Jahr unglaublich gut ist. Die Cases sind gut erzählt und mit viel Liebe zum Detail umgesetzt. Besser kann man die Ideen kaum verkaufen.
Ein Case, der dabei besonders hervorsticht, ist das Tampon Book. Für mich ein Beispiel für eine Arbeit, die nahezu perfekt ist. Ein guter Insight. Eine Lösung, die mehr ist als eine Werbekampagne und auf sehr schlaue Art nicht nur ein Problem anspricht, sondern löst. Es wundert mich nicht, dass die Arbeit auch im dritten Jahr noch ein paar mehr Löwen gewinnt. Vor allem, weil sie so unfassbar gut umgesetzt ist. Ja, und dann natürlich die Uncensored Library.
Es fehlen die Game Changer
Was fällt noch auf? Fast alle Arbeiten haben einen Umwelt- oder sozialen Purpose. Damit liegen wir im internationalen Trend. Ich persönlich finde das gut. Zumal sich die Arbeiten wirklich ernsthaft mit den Themen auseinandersetzen, etwas bewegen, wirklich Menschen erreichen und nicht auf plumpe Effekthascherei setzen.
Was im internationalen Vergleich in Deutschland auf breiter Basis fehlt, sind die Game-Changer-Projekte. Kampagnen, die das Potenzial haben, ganze Kategorien zu verändern und die in der täglichen Arbeit immer wieder als Vorbild auftauchen. Leichter gesagt als getan – umso mehr Respekt vor den Machern!
Eine meine Lieblingsmarken der vergangenen Jahre ist Essity, ein Hersteller von Hygieneprodukten. Angefangen mit der "Bloodnormal"-Kampagne, "Viva la Vulva" und jetzt den "#WOMBPAINSTORIES" haben es Agentur und Kunde geschafft, jedes Jahr aufs Neue, einen draufzusetzen und langfristig die Kategorie zu prägen.
Bei der Auflistung darf natürlich der "Moldy Whopper" nicht fehlen. Für mich wahrscheinlich die beste und mutigste Idee des Festivals.
Adresspollution.org ist eine Arbeit, die hoffentlich die gesamte Immobilienwirtschaft verändern wird und ein exzellentes Beispiel dafür, wie man Daten wirklich sinnvoll nutzen kann.
Beim letzten Case bin ich dann doch emotional geworden – vor Begeisterung. Ein Design Case, der so viel mehr ist als gutes Design. Ein tolles Zeichen für die Marke und eine wegweisende Lösung für die Fashion Industrie.
So, jetzt ist es aber genug mit den Vergleichen.
Ich freue auf den Rest des Festivals. Mit einfach tollen Arbeiten – egal wo sie herkommen.
An einem guten Tag können wir jeden Gegner schlagen. Aber darauf kommt es ja gar nicht an – außer heute Abend vielleicht. Ich freue ich auf die zweite Halbzeit und drücke Team Germany die Daumen!
Zum Schluss vielleicht noch das Wichtigste bei diesem Festival: A votre santé!
Kristoffer Heilemann ist seit zehn Jahren bei BBDO Düsseldorf und leitet als Geschäftsführer die Kreation. Heilemann hat seine Karriere einst bei Nordpol+ Hamburg begonnen und war bei DDB Berlin für VW zuständig. Er verantwortet zahlreiche in Cannes prämierte Arbeiten für Kunden wie Volkswagen (Horst Schlämmer), Pepsi (Iconic Moments), KMSZ (Life Lolli) und WWF (Eurythenes Plasticus). BBDO war beim ADC-Festival 2021 die erfolgreichste Agentur und führt derzeit das W&V-Kreativranking an. Das Foto zeigt den Autoren dort, wo er und viele Leser:innen jetzt gerne wären: An der Croisette in Cannes.