Gastkommentar von Neverest-Chef Ewald Pusch:
Weihnachts-Virals sind die neue Königsdisziplin
Warum schlagen uns ausgerechnet Händler vor, Zeit zu schenken? Neverest-Gründer Ewald Pusch erklärt die neue virale Weihnachts-Werbeoffensive des Einzelhandels.
Werbung wirkt, oder? Deutschlands Innenstädte sind wie leergefegt. Ein adventlicher Samstagnachmittag in den Fußgängerzonen der geschmückten Innenstädte gleicht einem Besuch auf dem neuen Berliner Flughafen – nichts als gähnende Leere. Zwischen den Schneewehen stehen ganze Gruppen von Verkäufern und Verkäuferinnen vor Ihren Geschäften und versuchen die wenigen Paare und Familien, die Hand in Hand oder innig umschlungen vorbeibummeln, mit warmen Worten in die Konsumtempel zu locken. Denn dort ist nichts los, gar nichts. Doch die Mühe ist vergeblich: Die Menschen, sie kaufen nichts.
Nach 20 Uhr werden die Kassen heruntergefahren, ohne dass sie klingeln. Das Licht geht aus, Türen werden geschlossen, nur um am nächsten Tag wieder für niemanden zu öffnen. Unternehmensberater haben Hochkonjunktur, Geschäftsführer berufen Krisentreffen ein und fragen sich verzweifelt, wo denn die Konsumenten geblieben sind. Längst müssten doch Horden von Weihnachtskäufern mit prall gefüllten Taschen durch die Straßen stapfen, schließlich sei doch Dezember.
In welchem apokalyptischen Szenario Sie sich hier befinden? Ganz einfach: Die Menschen haben sich die frohe Botschaft der aktuellen Weihnachts-Virals großer Händler zu Herzen genommen: Einfach mal Zeit schenken. Das Materielle vergessen und nur an die Lieben denken. Das erzählen uns dieses Jahr gerade Otto, Edeka, Sainsbury und andere große Händler. Wollen Sie uns wirklich zum Konsumverzicht animieren? Also, raus aus der Konsummühle? Meinen die das Ernst?
Wo letztes Jahr noch #heimgekommen werden sollte, scheint es dieses Jahr, als hätten die Werbeagenturen dieser Welt im Sommer gemeinsam ums Lagerfeuer der Rührigkeit gesessen und bierselig sinniert, was dieses Jahr wirklich wichtig ist im Leben. Der mit Spannung erwartete Weihnachtsspot von Edeka tritt dieses Jahr unter dem Hashstag #Zeitschenken auf. Wir beobachten einige Familien, die über dem vorweihnachtlichen Stress vollkommen den Spaß am Fest vergessen.
Die britischen Kollegen von Sainsburys bedienen sich einer Animation: Ein beruflich stark eingebundener Vater, der ausgerechnet Angestellter einer Spielzeugfabrik ist, erkennt, dass es um seine Zeit sehr spärlich bestellt ist. Auch er durchläuft den antikapitalistischen Erkenntnisprozess, der dieses Jahr unumgänglich scheint: Wer braucht schon Geschenke, wenn man sich selbst schenken kann?
Otto treibt die vorweihnachtliche Zeitschenkorgie auf die Christbaumspitze. Auf einer überlebensgroßen, animierten Uhr mit drei Zeigern, fristet eine dreiköpfige Familie ihren Alltag. Jeder lebt auf seinem eigenen Zeiger, gemeinsame Zeit ist nicht vorhanden.
Warum schlagen uns ausgerechnet Händler vor, Zeit zu schenken? Sind wir als Konsumgesellschaft bereits zu satt? Haben wir vor lauter Arbeit gar keine Zeit mehr, um zu konsumieren? Haben die Händler nichts in den Regalen, was uns anspricht? Oder wollen Sie uns emotional eher weichklopfen, weil Sie wissen, dass wir nach der ein oder anderen verdrückten Weihnachtsviral-Träne doch wieder zuverlässig zu Black Friday und Cyber Monday-Monstern mutieren, die hemmungslos Warenkörbe füllen?
Weihnachts-Virals sind die neue Königsdisziplin der Werber und Youtube ihr Sehnsuchtsort. Wer die meisten Herzen berührt, über den wird gesprochen. Und über wen gesprochen wird, der ist auch im Geschäft. Diese Regel ist zeitlos.
Der Autor: Ewald Pusch ist Gründer und Geschäftsführer der Münchner Agentur Neverest. Bis 2008 war war er Kreativchef der Serviceplan Erste Werbeagentur. Seine bekannteste Kampagne entwickelte er für das ZDF: "Mit dem Zweiten sieht man besser".