Einen so traurigen wie beschämenden Tiefpunkt setzte der notorische Krawall-Youtuber ApoRed, als er im Sommer Menschen eine Tasche mit einer Bombenattrappe vor die Füße warf und diese damit verständlicherweise in Todesangst versetzte. Der darauf folgende Shitstorm schadete seiner wachsenden Beliebtheit bei den Zuschauern kaum. Im Gegenteil: ApoRed sollte schon bald wieder für Schlagzeilen sorgen, aber dazu später mehr.

Voll heftig, dieses Real-Life!

Vorher lohnt es sich, noch kurz auf Mert Matans "Gay-Prank" einzugehen. In diesem Video eröffnete der türkischstämmige Matan seinem Vater, dass er schwul sei. Woraufhin dieser total ausflippte und seinen Sohn verprügelte, bis dieser den "Scherz" aufklärte. Klar, dass diese "megakrasse Reaktion" ihren Weg ins Netz finden musste. Selbst Bild.de fand daraufhin "Vier Gründe, warum Mert Matan homophob ist". Dass Matan im Nachhinein versuchte, die ganze Aktion zum "Sozialen Experiment" umzudeuten, machte es nicht besser. Angeblich, so Matan, sei alles gescriptet gewesen. Soviel zur viel beschworenen "Authentizität" von Youtube.

Eine sehr authentische Reaktion erlebten allerdings die Youtuber Leon Machere und der bereits erwähnte ApoRed als sie ihre sogenannten "24-Stunden-Videos" veröffentlichten. Dafür ließen sie sich über Nacht in Möbelhäusern und Schnellrestaurants einschließen. Woraufhin die Geschäftsinhaber sie kurzerhand anzeigten. Voll heftig, dieses Real-Life! Das hinderte andere, zum Teil deutlich jüngere Youtuber allerdings nicht daran, die Gesetzesverstöße ihrer großen Vorbilder nachzuahmen.

Hirn aus, Kamera an!

Gemacht wird, was Klicks bringt. Denn nur so können Youtuber vom Schlage Mert Matan und ApoRed noch verlässlich Geld verdienen. Vermarktbar sind derartige Krawall-Youtuber kaum, sagt Sarah Kübler, Chefin der Influencer-Plattform "HitchOn". Im Gegenteil: Sie vergraulen die Kundschaft: "Nach dem Gay-Prank hatten viele Kunden Vorbehalte, mit ihrer Kampagne auf YouTube zu gehen", berichtet Kübler. Da war erstmal Überzeugungsarbeit angesagt. Inzwischen spürt Kübler ein Umdenken: Statt den in Verruf gekommenen Produktplatzierungen wünschen viele Kunden eine langfristige Kooperation, verbunden mit dem Aufbau eines eigenen Kanals.

Auch die Multi-Channel-Networks gehen auf Abstand zu den unberechenbaren Krawallmachern. Mert Matan und TubeOne Networks gehen seit dem Gay-Prank getrennte Wege. Und noch vor ein paar Jahren wäre es keine Frage gewesen, jemanden wie ApoRed aufzunehmen, der immerhin 35 Millionen Views an monatlicher Reichweite mitbringt. Heute überlegen sich das alle zweimal, bestätigt ein Mitarbeiter eines großen deutschen Netzwerks, der ungenannt bleiben möchte.

Eine große Blase, kurz vorm Platzen

Dies sind erste Anzeichen, dass der große Hype um die Influencer abflaut. Noch will jeder mitverdienen am großen Geschäft mit den vermeintlichen Social-Media-Stars. Inhalte spielen dabei selten eine Rolle, es geht ausschließlich um Reichweite, um angeblich existierende Communitys, die Marken und Produkte entdecken sollen. David Hain beschreibt den überdrehten Markt so: "Ich blicke nicht mehr durch, wer da wer ist. Ich kriege Anfragen von irgendwelchen Leuten, die noch nie auf meinen Kanal geguckt haben, ob ich Videos für ein Friseurstudio machen könnte." Er sieht eine große Blase, die kurz vorm Platzen stehe. "Youtube ist jetzt an dem Punkt, an dem andere Medien schon vor Jahren angekommen sind. Die größte Reichweite wird mit dem größten Schrott erzielt."

Bei Youtube selbst sieht man das naturgemäß etwas anders. "Langfristig setzt sich Qualität durch", sagt Henning Dorstewitz, Sprecher von Youtube Deutschland. Bestätigt sieht er sich in dieser Einschätzung durch die jüngst veröffentlichten Top 10 der meistgesehenen Videos des Jahres 2016. Neben einem reichlich unlustigen Videoschlagabtausch zwischen Bibi und ihrem Lebensgefährten Julienco stechen vor allem die Videos von Künstler Julien Bam heraus, der seit vielen Jahren mit einfallsreichen und aufwändigen Clips für Furore sorgt. Ebenfalls in den Top 10 dabei: Jan Böhmermanns, der mit seinem "Verafake" RTL narrte, und die Satireredaktion Extra 3 mit ihrem Lied "Erdowie, Erdowo, Erdowann". "Das zeigt, dass die etablierten TV-Sender immer mehr auf der Plattform ankommen und verstehen, wie sie funktioniert", kommentiert Dorstewitz.

Youtube steht am Scheideweg

Das Ende des Musikfernsehens, des letzten großen Jugendmediums vor Youtube, wurde kurz nach der Jahrtausendwende eingeläutet, als Klingelton-Werbung, der bekloppte Frosch und Reality-Shows wie "Jackass" die Programmplätze füllten. Von diesem Zustand ist Youtube nicht mehr weit entfernt. Google muss dringend etwas dafür tun, dass die durchaus vorhandenen, hochwertigen Inhalte auch wieder ihr Publikum finden. Sonst wird man sich an Youtube an die Plattform erinnern, auf der ein junger Mann mit schlechter Frisur eine Arschbombe in eine Badewanne voller Glibber machte.


Autor: Moritz Meyer

Moritz Meyer (Jg. 1981) schreibt hauptsächlich über Online-Video und den digitalen Wandel. Er war schon so häufig im Internet, dass er aus Versehen mal in einem Video von Y-Titty gelandet ist. Wenn er nicht auf Burgen lebt, trifft man ihn meist in Köln. Fun Fact: Liest immer noch Comics von den Teenage Mutant Ninja Turtles.