Kolumne:
Weil das mit den Fähnchen längst nicht mehr funktioniert
Nico Lumma und Christoph Hüning sind Managing Partner beim Next Media Accelerator und schreiben jede Woche darüber, welche Trends sich gerade entwickeln und wie Startups etablierte Marktteilnehmer herausfordern.
Letzte Woche haben wir wirklich viel CNN geguckt und die Website der New York Times sehr häufig neu geladen, denn natürlich spielt die Präsidentenwahl in den USA auch hierzulande eine wichtige Rolle. Aber auch aus Deutschland gab es zahlreiche Live-Sondersendungen in der Wahlnacht, in der dank Zeitverschiebung und Auszählungsmodus eigentlich nichts zu berichten war, was aber ARD, BILD, ZEIT und andere nicht davon abgehalten hat, die ganze Nacht durchzusenden. Dazu wurden Gesprächspartner:innen aus Politik und Gesellschaft zugeschaltet, die alle irgendwas erzählen konnten, aber eigentlich auch nicht mehr wussten als das, was wir eh gerade auf dem Schirm bei CNN sehen konnten.
Wobei wir schon beim Thema John King wären, dem Zahlenerklärer, der gefühlt ohne Schlaf auskommt und mehrere Tage hintereinander in aller Ruhe und Gelassenheit an der Magic Wall erläutert, wie sich Zahlen entwickeln und welche Auswirkungen dies hat. Kein Vergleich zu Jörg Schönenborn, der auch 2020 immer noch mit dem Prinzip Touchscreen hadert und dessen Aufbereitung der Zahlen eher an die drögen Webseiten der statistischen Landesämter erinnert. Dafür darf er seit vier Jahren nach inzwischen jeder Wahl erklären, warum das Ergebnis so nicht vorhergesehen werden konnte, was irgendwann einmal die aktuellen Methoden der Wahlforschung zur Diskussion stellen sollte. Denn auch bei der Detailtiefe und dem Wissen um Zusammenhänge spielen John King und sein Team in einer anderen Liga. Natürlich war das nicht "unsere" Wahl, aber wer sich die Mühe macht, Sondersendungen zu entwickeln, darf gerne etwas mehr liefern als Floskelbingo mit B-Promis einerseits und langweiligen Statistiken andererseits, nur um irgendwie die Sendezeit zu füllen. Und was lief live auf den großen deutschen Sendern am Samstag gegen 17:30, als CNN den neuen “President Elect” ausrief? Nun ja, zumindest keine Wahlberichterstattung...
Die in den USA allgegenwärtigen Pundits, also Experten, haben dieses Mal bei CNN einen so guten Job gemacht, diese Wahl zu erklären, dass wir uns wünschen, auch das deutsche Fernsehen würde mal das Format Wahlabend deutlichst überdenken. Die immer selben Abläufe am Sonntagabend tragen kaum Erhellendes für die Zuschauer:innen bei, außer von Politiker:innen zu erfahren, dass sie sich bei den Wähler:innen bedanken, dass die Wähler:innen gesprochen hätten und dass die eigenen Verluste im Vergleich zu anderen Parteien gar nicht so schlecht seien oder dass die eigenen Gewinne natürlich das Ergebnis guter politischer Arbeit sind.
Das ist alles ungefähr so erhellend, wie einen Fußballer direkt nach dem Abpfiff zu fragen, woran das Ergebnis denn gelegen habe. Wenn der Anchorman einer der wichtigsten deutschen Nachrichtensendungen seine amerikanische Verwandtschaft besucht und nicht einmal mit seinem republikanisch wählenden Schwiegervater eine inhaltliche Diskussion über den Klimaschutz, die BLM Bewegung o.ä. beginnt, sondern lieber auf der Gefühlsebene der Familie bleibt, ist das näher an einem Unterhaltungsformat denn an faktenbasiertem politischen Journalismus.
Aber vermutlich liegt es auch den Zuschauer:innen, dass sich Formate hierzulande nicht ändern, denn dem linearen Fernsehen wird immer noch eine Wichtigkeit attestiert, die in Zeiten des allgegenwärtigen Internets eher anachronistisch ist. Immer wieder ist bei wichtigen Ereignissen auf Twitter zu sehen, wie Menschen Sondersendungen und Programmunterbrechungen fordern, damit ARD und ZDF direkt das Publikum adressieren, anstatt den Bergdoktor oder eine Quizshow weiterzusenden. Zumeist ohne Erfolg.
Dabei ist genau dafür das Web bestens geeignet, dort lässt sich auch jenseits eines linearen Programms ein Auftrag erfüllen, der Menschen erreicht. Und wie kann es sein, dass wir seit vier Jahren abends in den TV-Nachrichten Dinge hören wie “schrieb Präsident Trump auf Twitter” und gleichzeitig stagniert die Twitter-Nutzung in Deutschland seit Jahren? Wir haben in den letzten Jahren so viele Startups gesehen (und in einige davon investiert), die in der Lage sind, aus großen Datenmengen Inhalte zu generieren und für Nutzer:innen aufzubereiten, wie z.B. die Datenvisualisierungen von 23 degrees, die “automagisch” geschriebenen Artikel von Narrativa oder die Daten-gestützten interaktiven Dialoge auf Whatsapp und anderen Messengern von Spectrm oder HelloGuide.
Aber natürlich können Sender auch weiter zur Elefantenrunde oder Promis in ein nachgebautes Oval Office einladen und auf einen Erkenntnisgewinn hoffen. Das mit den Fähnchen funktioniert aber schon lange nicht mehr, die interessierten Nutzer:innen sind verwöhnt und erwarten Fakten gut präsentiert, so wie John King es vorgemacht hat.