Tom Alby:
Warum Personas oft nicht funktionieren
Produktentwicklung kann so einfach sein: Wir denken uns was aus, erfinden eine Zielgruppe und nennen sie "Personas". W&V-Gastautor Tom Alby erklärt, warum das nicht läuft.
Robert ist Anfang 40, auf der Karriereleiter bis zum mittleren Management aufgestiegen, glücklich verheiratet, zwei Kinder. Er arbeitet viel und will sich in seiner knappen Freizeit nicht mit komplizierten Details beschäftigen. Er benötigt schnell zu verstehende und einfach zu bedienende Services, damit er mehr Zeit mit seiner Familie verbringen kann. Er ist finanzkräftig, besitzt ein neues iPhone und ein etwas älteres iPad.
Robert existiert nicht. Und das ist kein Problem. Denn Robert ist eine Persona, die stellvertretend für ein Segment von Menschen steht, für die eine Kommunikation, ein Service oder ein Produkt entwickelt werden soll. Im gesamten Projektverlauf, bei jeder Entscheidung, denken wir nun an Robert. Welche Bedürfnisse hat er? Wie muss die User Experience gestaltet werden, damit Robert sich wohlfühlt? Sein gewinnendes Lächeln strahlt uns vom Stockfoto entgegen und ist anfassbarer als abstrakte, trockene Daten einer gesichtslosen Masse. Keine Frage, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, ist eine gute Sache für relevante Kommunikation und benutzbare Produkte.
Das Persona-Konzept ist aus dem Ruder gelaufen
Das Problem mit Personas? Ihr Erfinder Alan Cooper führte Interviews mit echten Menschen, um deren Bedürfnisse und Ausgangsbasis kennenzulernen und daraus Personas für seine Softwareentwicklung zu generieren. Unser eingangs vorgestellter Robert hingegen, basiert nicht auf Interviews. Stattdessen ist er die visualisierte und ausgeschmückte Personifizierung einer Personengruppe, die im stillen Kämmerlein erdacht wurde. Irgendwo auf dem Weg von Alan Coopers Ansatz zu der heutigen Persona-Nutzung ist etwas verloren gegangen: Die Grundlage einer Persona, Gespräche mit mehreren, echten Menschen. Cooper empfahl zehn bis zwölf Interviews.
Worauf basieren Personas, wenn nicht auf Interviews mit echten Menschen? Zum Beispiel darauf, dass man glaubt, die Zielgruppe zu verstehen, ohne mit ihr geredet zu haben. Insights based on Bauchgefühl, dabei ist der typische Agenturmitarbeiter weit entfernt von der breiten Masse. Oder Personas werden mit anekdotischer Evidenz belegt. "Mein Cousin ist auch Zahnarzt, und der surft nur mit seinem iPad". Vielleicht existieren sogar Daten auf Basis von Similar Web, Best4Planning oder Google Trends – nur leider versteht nur ein Bruchteil der Anwender, wie wacklig Hypothesen auf den Erkenntnissen dieser Tools stehen und bei genauem Hinsehen sofort zusammenbrechen können.
Dahinter steckt auch ein psychologisches Phänomen, der Bestätigungsfehler. Informationen werden so gesammelt und interpretiert, dass sie der eigenen Erwartung entsprechen. Kein Wunder, dass man dann lieber nicht noch mal genauer hinsieht und auch nichts davon hören will, dass Robert eine reine Kopfgeburt ist, denn dadurch wäre das hart Erarbeitete in Frage gestellt. Schlimmer noch, was wäre, wenn Robert nicht mal postrationalisiert werden kann.
Zuhören lohnt sich
Interviews kosten Zeit und Geld, allein das Formulieren der Fragen ist eine Wissenschaft für sich, wenn man die Interviewten nicht bewusst oder unbewusst in eine Richtung lenken will. Zeit und Geld aber fehlen häufig genug. Die Gretchenfrage ist, was teurer kommt: Wackelige Insights, auf deren Grundlage hohe Summen an Pitch-, Kommunikations- oder Entwicklungsmaßnahmen ausgegeben werden, oder wenige Personentage, die eine Kommunikation wirklich relevant oder ein Produkt nutzbarer machen?
Das bedeutet nicht, dass die Zeit des Bauchgefühls komplett vorbei ist. Viele tolle Produkte und Kampagnen sind auf Basis von Bauchgefühl entstanden. Aber Bauchgefühl mit echten Insights verhilft zu Lösungen, die Kunden und Nutzer trotz ihrer immer geringer werdenden Aufmerksamkeitsbereitschaft erreichen können. Relevanz entsteht dadurch, dass wir wirklich verstehen, was Menschen denken und brauchen. Zuhören ist in diesen Zeiten wichtiger denn je.
Der Autor: Tom Alby arbeitete bei Google und Kolle Rebbe, eher er als Director Data & Analytics zu Interone wechselte.