Einschaltquoten:
TV-Quoten abschaffen? Was Mediakenner Jörg Blumtritt von Kalkofes Forderung hält
Oliver Kalkofe wünscht sich das Ende der Einschaltquote. Über alternative Messverfahren hat W&V Online mit Mediaforscher Jörg Blumtritt gesprochen.
Im aktuellen "Focus" spricht sich Oliver Kalkofe für die Abschaffung der TV-Quote aus. Der Comedian, dessen Sendung "Kalkofes Mattscheibe - Rekalked" in dieser Woche bei Tele 5 startet, hält das Messverfahren für "nicht mehr zeitgemäß" - zu sehr habe sich das Fernsehverhalten in den vergangenen Jahren geändert. Wie sinnvoll die Quote wirklich ist und welche Alternativen es gibt, dazu hat W&V Online den früheren Mediacom-Geschäftsführer Jörg Blumtritt befragt.
Herr Blumtritt, was halten Sie von Kalkofes Aussage?
Fernsehen ist auch heute DAS Massenmedium. Selbstverständlich spielt es da eine Rolle, wie stark eine Sendung bei den Zuschauern Anklang findet. Ob es aber die Quote als Maßzahl ist, die etwas über den Erfolg einer Sendung sagt, kommt darauf an, was man unter Erfolg versteht. In der Mediaplanung geht es um Reichweite in bestimmten Zielgruppen, also um Kontakte in den Werbeblöcken - Quote (also der Marktanteil) ist dafür aber unerheblich. Wenn ich eine Call-In-Sendung oder einen Teleshop mache, ist Quote auch egal, da geht es ausschließlich um die Zahl der Anrufe.
Wie stark verzerren Online-TV, Festplatten-Receiver etc. die Genauigkeit der aktuellen Quotenmessung? Rechtfertigen derartige Argumente die Forderung nach neuen Verfahren?
Die Fernsehforschung muss sich ständig den neuen technischen Gegebenheiten anpassen - das war schon genauso bei Einführung des digitalen Satelitenempfangs der Fall, wie es heute wichtig ist. Die veränderten Sehgewohnheiten heute stellen die Forschung wieder vor neue Herausforderungen: Immer mehr Video wird beispielsweise auf mobilen Endgeräten genutzt, die sich nur schwer in Panels mit Metergeräten erfassen lassen. Damit wird es zwangsläufig zu einer Anpassung kommen.
Welche Alternativen sehen Sie?
Hybride Verfahren, bei denen die Nutzerstrukturen über ein Panel erhoben werden, die Nutzung selbst aber technisch getrackt wird, bieten viele Vorteile: Sie sind "abwärtskompatibel", das heißt für stationäre TV-Geräte liefern sie vergleichbare Zahlen, wie die bisherigen Panel, aber gleichzeitig wird die Online-Nutzung tatsächlich mitgemessen.
Für ausschließlich IP-basierte Angebote - IPTV, Online Video, Mobile, sonstiges Web - kommen Vorhersagemodelle hinzu, wie sie im Targeting entwickelt wurden. Dort werden die Nutzungsvorgänge durch Beobachtung des Nutzungsverhaltens bestimmten Zielgruppen zugeordnet. Diese Prediction-Verfahren sind in vielen Zielgruppen bereits außerordentlich treffsicher, und ich bin überzeugt, dass sie sich langfristig durchsetzen werden. Sie skalieren, sind im Vergleich zu Panels wesentlich günstiger, und man kann die Werbung direkt daraus targeten.
Es wird interessant zu sehen, wie die "neuen" Anbieter konvergenter Videodienste mit dem Thema umgehen: Apple mit iTunes, Microsoft auf der XBox oder Google können jeweils aus ihren direkt gemessenen Nutzerdaten hochinteressante Forschung ableiten.
Wie sinnvoll ist es, über zeitgemäße Methoden nachzudenken? Könnte sich ein neues Verfahren überhaupt gegen das aktuelle durchsetzen - schließlich hängen besonders die privaten Sendeanstalten von dem Kriterium der Quote ab?
Man muss unterscheiden, was das Ziel einer solchen Messung ist. Wenn es darum geht, etwa für die strategische Kommunikationsplanung die Nutzungsmuster, den Tagesablauf der Menschen, die von der Kampagne erreicht werden sollen und die "Touchpoints" zu erforschen, ist es nicht primär wichtig, dass die Reichweiten perfekt abgebildet werden. In diesem Fall ist es wichtiger, dass das Gesamtbild stimmt. Für Mediaplanung und vor allem für die Kampagnenoptimierung muss aber die Reichweite nachvollziehbare, stabile Werte liefern - hier geht es schließlich um eine Genauigkeit von wenigen Prozent!
Sollte sich ein Verfahren etablieren, dass alle derzeitigen Arten des Fernsehens berücksichtigt – sind davon frappierend andere Ergebnisse zu erwarten?
Idealerweise sollten die Zahlen vergleichbar bleiben. Tatsächlich sind die Ergebnisse aus Studien, die ich kenne, strategisch betrachtet fast immer gut vergleichbar mit den "klassischen" Verfahren. Die Schwierigkeit liegt darin, dass wir für TV mit dem AGF-Panel im Augenblick ein unglaublich präzises Messsystem haben, und zwar, weil es genau auf diesen einen Kanal ausbalanciert ist. Ein hybrides System wird entweder unterschiedliche Messverfahren verbinden, wie die heutige Intermedia-Datei - dann sind die Kontakte nicht gleichwertig - oder es wird ein Kompromiss sein, der zwar vergleichbare Kontakte liefert, aber TV in anderer Weise abbildet, als dies heute der Fall ist. Je nach Anwendung haben beide Ansätze unterschiedliche Vor- und Nachteile.
Jörg Blumtritt verfügt über langjährige Erfahrung in der Media-Beratung - unter anderem war er als Chief Operating Officer beim Online-Video-Vermarkter Tremor Media und als Forschungschef der Agentur Mediacom tätig. Darüber hinaus ist der 42-Jährige Vorstandvorsitzender der AG Social Media und stellvertretender Bundespressesprecher der Piratenpartei. Privat bloggt er unter memeticturn.com.