
Social-Media-Tücken: Warum der Facebook-Krimi von Gothaer nicht funktioniert und trotzdem Respekt verdient
Literarisch gescheitert, als innovative Idee geglückt: Mit dem interaktiven Krimi beweist die Gothaer Versicherung viel Kreativität und Mut. Der User im Social Web ist und bleibt unberechenbar. Das birgt Potenzial für viel Spaß - und ein gewisses Risiko.
Der Küster findet eine Leiche. Nee, Moment, der Küster findet eine vermeintliche Leiche und stirbt vor Schreck. Nee, anders, der Küster wird als Leiche in einer Lache roter Farbe drapiert.
Seufz. Sie kennen das, viele Köche verderben den Brei, und letzteres entsteht an einigen Stellen des Facebook-Krimis, den die Versicherung Gothaer online von den Usern schreiben lässt. Wie früher die Fortsetzungsgeschichten, die man gemeinsam auf einem Blatt Papier schrieb und dann so faltete, dass der nächste Autor nur immer das letzte Wort sehen kann, so ähnlich funktioniert der interaktive Krimi, den die Gothaer-Facebook-Fans anlässlich der neuen Staffel der "RTL-Versicherungsdetektive" (die am 6. Juni um 21.15 Uhr anläuft) verfassen. Zusammen mit der Agentur Aha entstand das Konzept, das Krimifans sowie Hobby- und Möchtegern-Autoren anspricht. Anreiz ist neben dem kreativen Austoben eine Verlosung: Jeder, der mitschreibt, kann wöchentlich einen iPod Shuffle gewinnen. Am Schluss der Aktion Ende Juni zieht Hermann Jung, Versicherungsdetektiv bei der Gothaer, den Hauptgewinner, der Mitte Juli ein Eifel-Krimiwochenende erleben darf.
In dieser mutigen Facebook-Idee steckt viel Spaß, aber auch einige Risiken - wie immer im Social Web muss sich das Unternehmen entscheiden, ob es tatsächlich dem User die Macht einräumt und dafür die Qualität der Geschichte opfert, oder ob er das Konzept ad absurdum führt, indem er zensiert und regulierend eingreift. Die sehr souveränen Verantwortlichen bei der Gothaer beweisen Mut zum Risiko und lassen die Autoren machen, auch wenn das tatsächlich bisweilen sehr merkwürdige Blüten treibt. "Zensur passt nicht zu Facebook", macht Gothaer-Sprecher Klemens Surmann sehr entschieden die Haltung des Versicherers deutlich.
Respekt! Die Folge dieser konsequenten Haltung sind einige Stolperfallen: So entscheidet zwar bei zeitgleichen Beiträgen der Chefautor, welchen er veröffentlicht - paralleles Schreiben aber kann er nicht verhindern. Die Autoren texten in dem ihnen eigenen Tempo und Stil zum letzten Anschlusskapitel, und so kommt es, dass gleich zu Beginn der Geschichte der Kommissar Leise nicht einmal, sondern viermal mit dem Detektiv Igor telefoniert. "Wir haben erst überlegt, rigoros zu beschränken", sagt Surmann, "eben wegen der möglichen Parallelität und der Handlungssprünge." Das allerdings hätte zur Folge gehabt, dass mit jedem einzelnen Mitautor verhandelt werden muss, außerdem wäre die Verlosung in Mitleidenschaft gezogen worden.
Socialmedia-adäquat beißt also die Gothaer in den sauren Apfel und nimmt in Kauf, dass die Krimihandlung an einigen Stellen ins Trudeln kommen wird. "Wir lassen der Kreativität freien Lauf und schreiben dafür, wenn es zu langwierig, widersprüchlich und kompliziert wird, eine kurze Zusammenfassung, damit die Leute dann darauf aufsetzen können." Nur zwei Beiträge seien bisher nicht veröffentlicht worden - zu eklig und zu brutal, das geht dann bei aller Online-Freiheit nicht.
Weitere Tücke: Die Teilnehmer sind teilweise Mehrfachtäter, ihre Opfer sind die Handlung und die deutsche Rechtschreibung. Aktuell gab es 24 Kapitel von 15 Leuten, die dann auch mal interpunktions- und sinnfreie Blüten enthielten wie "Natürlich freute sich Igor für Tim aber er mußte auch festellen das es immer merkwürdiger wurde" oder "Das war nun wirklich der Höhepunkt! das dieser Dieb keinerlei rücksicht auf seine Freizeit nahm war das eine das andre war diese Sauerei ja man hatte zeigen wollen zu was man fähig gewesen wäre und Gottseidank nicht getan hatte."
Hätte er das mal nicht getan, genau. Aber auch das ist eben Freiheit im Internet. Wie kriminell die Beiträge dann aus literarischer Sicht auch sein mögen und wie sehr sich doch der eine oder andere Mitautor daran ergötzt, den anderen die Handlungsstränge zu zerstören. Die Verantwortlichen bei der Gothaer aber lassen sich nicht unterkriegen und sind sehr zufrieden mit dem Verlauf der Aktion. Surmann: "Wir lernen natürlich auch ständig dazu, das ist ja eine völlig neue Art des Gewinnspiels, da wird die intellektuelle Kreativität der Leute schon ziemlich gefordert." Mit einem Massenansturm und enormem Wachstum der Fanzahlen habe man ohnehin nicht gerechnet. "Wir wollten mal etwas anderes machen und so Aufmerksamkeit erregen, das ist bisher absolut gelungen", freut sich der Sprecher. Man setze lieber auf die wirklich interessierten Fans. So wie 2011. Da verbuchte die Gothaer laut Pressesprecherin Martina Faßbender mit dem Aufruf, berühmte Kunstwerke kreativ zu nachzuempfinden, eine "sehr gute Resonanz bei den Usern".