Norwegen und das Medien-Massaker: "Ein Täter darf nicht abgebildet werden"
Was haben die vermeintlichen Qualitätsmedien aus der Katastrophe von Winnenden gelernt? Die Berichterstattung über den Massenmord in Norwegen zeigt: Fast gar nichts. W&V-Chefredakteur Jochen Kalka über ein wiederholtes Versagen.
Was haben die vermeintlichen Qualitätsmedien aus der Katastrophe von Winnenden gelernt? Die Berichterstattung über den Massenmord in Norwegen zeigt: fast gar nichts. W&V-Chefredakteur Jochen Kalka über ein wiederholtes Versagen.
Weil es regnet, stellen Dutzende von Fernsehanstalten Zelte auf, die sie professionell ausleuchten. Rund um den Ort des Massakers sieht es aus wie auf einem Rummelplatz. Hunderte von völlig schockierten Kindern, Vätern und Müttern. Rummel rund um Blumen, Kerzen, Trauer. Eine von illustren Medien eingekreiste Leere.
Die Fassungslosigkeit wird umzingelt, um sie aufzusaugen. Vampirartig werden Trauernde überfallen, angezapft, in ihrer Intimsphäre gestört. "Kanntest du jemanden?" krallt sich ein Reporter wieder ein orientierungsloses Kitz aus der Herde. "Hast du was gesehen?“ Ein zaghaftes Nicken reicht schon aus, um binnen weniger Sekunden fünf Mikrofone unter der Nase zu spüren. "Wo wohnte er?" "Hatte er eine Freundin?“ "Wie waren seine Eltern?" "Was für Hobbys hatte er?"…
Den Medien sind die Opfer egal. Für sie ist der Täter Opfer. Die Medien suchen nach Antworten, wie es zu der Tat kommen konnte. Der Täter als Opfer der Gesellschaft. Immer die gleiche Debatte. Ungeniert vergehen sich all diese Medien an den Opfern und ihren Angehörigen. Unsittlich berühren sie die Gefühle der Menschen und verletzen sie. Stören sie in ihrer Hilflosigkeit, in ihrem Schock, in ihrem Nirgendwo.
All diese Zeilen beschreiben nicht die Situation in Norwegen. Und doch tun sie es. Ursprünglich galten diese Worte der Situation nach dem sogenannten Amoklauf von Winnenden. Wir haben dies damals auf wuv.de publiziert, kürzlich ist daraus das medienkritische Buch "Winnenden – Ein Amoklauf und seine Folgen" entstanden.
Die Kritik wurde wohl nicht von vielen Medien verstanden. Oder nicht ernst genommen. Denn wieder ist es der Täter. Wieder groß und breit auf den Titelseiten. Auch in Norwegen selbst, wo der Horror passiert ist, etwa beim "Dagbladet". Der Täter, ganz groß, auch hierzulande, im Fernsehen, groß in öffentlich-rechtlichem, breit in privaten Sendern – und überall im Internet, auch bei Qualitätsmedien wie Spiegel Online oder dem Qualitätsmediumsversuch Focus Online . "Wieso zeigen sie den Täter überall?", fragen mich Kinder, die – wie ich – in Winnenden wohnen und die aus Winnenden gelernt haben. Einige Medien haben es nicht. Immer noch nicht.
Ein Täter darf nicht abgebildet werden, er darf keine große Rolle in der Berichterstattung spielen, sonst lockt das Nachahmer an. Das sagen die Psychologen, etwa Bruno-Ludwig Hemmert, der Leiter des Kriseninterventionsteams in Erfurt und in Winnenden gewesen war. Focus Online zeigt den Massenmörder schön groß und thematisiert auch noch, dass er ein Vorbild hatte, einen amerikanischen Terroristen. "Focus", "Spiegel" und Co machen den Täter zum Helden. Wieder einmal. Und zum Vorbild für Loser. Wieder einmal. Warum aber lernen diese wichtigen Leitmedien nichts dazu?
Ganz klar: Journalisten, die vor Ort sind, im braven Oslo, sind von der aktuellen Situation meist selbst völlig überfordert. Sie stehen meist selbst unter Schock. Dann kommt der Druck aus der Kernredaktion dazu, von Kollegen, die weit genug weg sind und nicht schon wieder das Krokodil vom Baggersee als Sommerlochstory hervorkramen wollen. Toll, dass Norwegen mitten in der Sauren-Gurken-Zeit passiert ist. Dann ist da noch der Druck von den Kollegen um einen herum, der Druck der Echtzeitmedien, ja, verdammte Echtzeit, Nachdenken ist nicht mehr, man ist ja nun hier, jetzt, vor Ort, man muss ja liefern, schnell, man braucht Material, es herrscht eine Hetze, eine Jagd nach Informationen, die gar keine Informationen sind. Tränen etwa, Blut und intime Trauer.
Immerhin: Bild.de machte am Sonntag nicht mit dem Täter auf, sondern mit dem "Held mit seinem Mini-Boot“, der mehr als 20 Kinder gerettet haben soll. Und mit einem Jugendlichen, der sich tot gestellt habe. Und nicht mit dem Täter in Montur – oder mit seinem sinnlosen Schießzeugs.
Warten wir ab, wie die Titel der Printausgaben von "Stern", "Zeit", "Spiegel" und "Focus" aussehen werden. Ob sie, wie es einige Zeitungen heute (etwa die "Süddeutsche" auf Seite 1) oder Zeit Online schon gestern sauber gelöst haben, einfach Kerzen zeigen – und im Hintergrund die Insel. Oder ob sie sich wieder auf jugendliche Opfer stürzen? Oder den Täter nochmals heroisieren werden? Und ob sie in ihrer Berichterstattung ungefragt blutüberströmte Opfer abbilden, schockierte Kinder befragen und auch ganze Straßenzüge abklappern, um Informationen zu Täter und Opfern zu erhalten?
Ob die gedruckte "Zeit" wieder ein Ranking abbildet, wie einst nach Winnenden, und die besten Amokschützen der Welt aufzählen wird? Mit Norwegen haben wir ja einen neuen Rekordhalter, da verschiebt sich das Ranking. Gratulation an die Empathie mancher Kollegen.
Warum wir uns bei W&V so aufregen über derartig blutrünstige Berichterstattung? Weil sich in solchen Situationen zeigt, was Qualitätsmedien sind und was nicht. Weil wir Qualitätsmedien brauchen, denen Leser vertrauen können. Nur dann haben sie ihre Wirkung.