Medien-Terror in Winnenden: Die Sensationskarawane zieht weiter
Kamera-Teams und Katastrophen-Touristen haben die Kleinstadt Winnenden heimgesucht. W&V-Chefredakteur Jochen Kalka wohnt mit seiner Familie in Winnenden und schildert einen medialen Ausnahmezustand, der vieles übertüncht und manche Frage offenlässt.
Schluss mit der Stille in der Stadt Winnenden. Schlagartig füllte sich am gestrigen Donnerstag der kleine Ort. Mehr und mehr Fernsehteams belagerten die Stadt, viele kamen direkt aus Köln, wo sie das Schlimmste des Einsturzdramas bereits im Kasten hatten. Schön, dass Winnenden so nahtlos überging. Dort suhlten sich dann mehr als 40 Teams mit ihren Übertragungswagen im vom Regen geschwängerten Dreck. 28 Wagen schafften es mit ihren gigantischen Satellitenschüsseln in die unmittelbare Nähe der Albertville-Realschule.
Weil es regnete, stellten Dutzende von Fernsehanstalten Zelte auf, die sie professionell ausleuchteten. Rund um den Tatort sah es aus wie auf einem Rummelplatz. Immerhin hielten die mutigsten Kameraleute einen Abstand von rund sieben Metern vor dem Blumenmeer ein. Trauernde Schüler und Schülerinnen, die nicht von Mikrofonen überfallen oder von grellen Kamerascheinwerfern geblendet werden wollten, wichen aus, legten ihre Blumen und Kerzen in der Nähe ab. Jeder der umliegenden Bäume wurde einem Opfer zugedacht.
Neben die vielen Reporter, die auch aus der Schweiz, aus Frankreich, von CNN und dem arabischen Sender Al-Dschasira gekommen waren, gesellten sich mit zunehmendem Abend immer mehr Touristen dazu. Wie Heuschrecken fielen ab 16 Uhr Massen von Schaulustigen ein. In der Kleinstadt ging für drei Stunden nichts mehr. Die Polizei begann, Straßen komplett zu sperren, etwa an der Schlosskirche, wo die Abendtrauer stattfand. Oder sie machte die kleinen Gassen kurzzeitig zu Einbahnstraßen, etwa die Albertviller, weil es schlicht kein Durchkommen mehr gab. Die Nummernschilder standen für Städte aus einem Umkreis von 300 Kilometern. Es gab wohl viele Touristen, „deren innere Stimme ihnen sagte: Fahr dort hin“. Und die dann ihre Eindrücke ungeniert fotografierten und stolz ins Netz stellten, etwa Fotos vom Frisör „Hairkiller“, der groß mit „Killer-Preisen“ wirbt. Die beiden Hotels und die wenigen Pensionen sind komplett ausgebucht, der einzige McDonald´s macht den Umsatz seines Lebens.
Am heutigen Freitag brechen sie fast alle wieder auf. Keine zehn Übertragungswagen sind zu Mittag mehr in der Stadt. Die Schüler der Stadt laufen alle Arm in Arm durch die Gassen, mit hängenden Köpfen. „Ich kann die Reporter nicht mehr sehen“, sagen sie, „Ob er es im Internet angekündigt hat oder nicht, macht jetzt auch keinen Unterschied mehr“. Weiterhin berichten die Medien nur über den Täter. Schuld seien die Lehrer, sagt etwa am Abend im ARD-Brennpunkt die Frau aus Mainz, die sich Psychologin nennt und forsch auf kompetent macht. Schuld seien die Computerspiele, thematisiert auch noch am heutigen Freitag bald jede Zeitung, zumal der Täter genau die Spiele zu Hause hat, mit denen fast jeder Schüler spielt. Auch das mangelnde Waffengesetz wird thematisiert, nicht aber, warum der Vater eines geistig kranken Jungen, der in der Psychiatrie in Behandlung ist, zu Hause seine Waffen offen herumliegen lässt.
Und es wird auch nicht thematisiert, dass es hier jetzt 15 Familien gibt, bei der jeweils seit Mittwoch ein Mensch weniger am Tisch sitzt. Zum Beispiel bei dem frisch verheirateten Polizisten, der einer der ersten am Tatort war und seine eigene Frau, eine junge Lehrerin, dort tot vorfand. Es wird nicht darüber berichtet, wie in den Parks und rund um die Kleinstadt Menschen in DRK-Montur herumirren. Mit immer noch fassungslosen, leeren Gesichtern. Solchen, die die Kameras doch so gerne einfangen. Es wird nicht darüber berichtet, wie sich die Kinder in großen Gruppen treffen, wie sie Hunde, fremde Hunde ausführen, um sich abzulenken, wie sie sagen. Kaum ein Wort über die Trauerzimmer, die im gesamten Schulzentrum eingerichtet wurden, über die „Glückssteine“, die von den Lehrern verteilt wurden, damit sie die Kinder zu den Blumen und Kerzen legen können. „Keiner wollte rote Steine, die erinnern an Blut.“
Das alles müssen die Medien auch nicht berichten. Aber sie müssen nicht tagelang vermelden, welch armes Opfer der Täter war. Wieso sollen sich ausgerechnet die echten Opfer, die, die überlebt haben, schuldig fühlen? Das ist unsensibel. Das ist nicht fair. Das ist pietätlos und verherrlicht letztendlich den Mörder. So werden heute schon Nachahmer geboren.
Vermutlich wäre es am besten, Medien würden überhaupt nicht über einen Massenmord an Schulen berichten. Als 1980 im ZDF der Sechsteiler „Tod eines Schülers“ lief, brachten sich Massen von jungen Menschen um. Seither haben sich Medien darauf verständigt, nicht mehr über Selbstmorde zu schreiben. Das macht den Selbstmord ziemlich unattraktiv. Auch ein Massenmord oder ein Amoklauf ist dann für minderwertigkeitsgetriebene Selbstverherrlicher nicht mehr so interessant, wenn nicht – oder nur minimalst – darüber berichtet werden würde. Oder wollen wir Medien solche Ereignisse? Wollen wir so etwas für die Quoten und Auflagen? Die Kioskbesitzerin am Winnender Marktplatz könnte darauf verzichten.
Die Kreissparkasse Waiblingen hat in Abstimmung mit der Stadt Winnenden ein Spendenkonto für die Opfer des Amoklaufes eingericht. "Spendenkonto Opfer Winnenden", Kreissparkasse Waiblingen, Bankleitzahl: 602 500 10, Kontonummer: 158 00 202.