Mr. Media:
Manege frei, lieber Medien-Zirkus: Die Weihnachtsbotschaft von Thomas Koch
Warum erinnert uns die Werbebranche eigentlich immer an einen Zirkus? Weil sie so ähnlich funktioniert, schreibt Thomas Koch alias Mr Media in seiner letzten Kolumne 2016 und erklärt, wer welche Rolle spielt.
Immer wieder fällt im Zusammenhang mit Medien und Agenturen das Wort "Zirkus". Wir sprechen vom Medien-Zirkus ebenso häufig wie vom Agentur-Zirkus. Wie kommt das nur? Machen das andere Branchen genauso? Gibt es bei ihnen einen Auto-Zirkus? Einen Chemie-Zirkus? Etwa einen Mobilfunk-Zirkus? Oder einen Badreiniger-Zirkus? Hat man irgendwie noch nie von gehört. Demnach muss an den Branchen im Kommunikationsgewerbe ja irgendwas Theater-, Kirmes- oder Rummel-, auf jeden Fall Spektakel-artiges sein. Betrachten wir das einmal näher und schauen, ob das einer Überprüfung standhält.
Der Zirkus öffnet das Tor zu einer anderen Wirklichkeit, heißt es. Quasi zu einer Parallelwelt. Da ist schon mal was dran. Zum Zirkus gehören Artisten und Dompteure, Zirkustiere, Clowns, Zauberer und Zuschauer. Die Clowns und Zauberer sind schnell ausgemacht: Das müssen die Kreativen sein.
Die Artisten und Dompteure wären demnach die Mediaagenturen - jedenfalls entspricht das ihrer Selbstwahrnehmung. Wenn die Medialeute also die Dompteure sind, dann müssen die Tiere wohl oder übel die Medien sein. Und es blieben die Kunden als Zuschauer, als meist unbeteiligte, aber kunstvoll zu unterhaltende Betrachter des Spektakels. Auf jeden Fall sind sie es, die den Eintritt zahlen und damit den ganzen Rummel finanzieren. Das kommt ganz gut hin.
Die Medialeute sind also Artisten und Dompteure? Artisten auf jeden Fall. Sie jonglieren unablässig mit den Werbegeldern ihrer Kunden. Da es bekanntlich nicht ihr eigenes Geld ist, gehen sie damit um wie mit Spielgeld. Manchmal lassen sie es auch einfach verschwinden. Legendär das damalige Kunststück, das der unvergessene Große Aleksander - ursprünglich ein Drahtseilartist - aufführte. Der Media-Houdini ließ gleich 37 Millionen verschwinden - und verschwand dann selbst. Sein letzter Akt war zugleich sein größter. Man soll ja aufhören, wenn es am schönsten ist.
Die Wiege des klassischen Zirkus liegt im industrialisierten England. Sir Martin ist einer ihrer ganz großen Zirkusdirektoren. Man sagt ihm nach, er könne aus Wire and Plastic Products pures Gold machen - wie seinerzeit die Alchemisten. Ihm wird allerdings ein Wechsel vom Zirkus in die Agrarwirtschaft nachgesagt, da man dort die Kunden noch besser melken kann.
Die Media-Artisten jonglieren mit allen möglichen Gegenständen: mit Reichweiten, GRPs, Impressions und CPOs. Manche sind darin so geschickt und flink, dass man kaum nachkommt, geschweige denn erkennt, wie sie die Media-KPIs hochwerfen und wieder auffangen. Einige wenige von ihnen sind Meister in der einzigartigen Kunst der Kontakt-Jonglage, bei der sie es verstehen, Objekte vollständig zu manipulieren. Wie sie ihre Kunstfertigkeiten zustande bringen, verraten sie ebenso wenig wie die Zauberer. Regelmäßig treffen sie sich in einem geheimen Zirkel namens OMG, dem Orden der Media-Großmeister, und erfinden neue Finessen, um die Kunden zu verblüffen.
Die Dompteure unter den Mediakünstlern verstehen es, jedem der zuvor jahrelang trainierten Zirkustiere geradezu verblüffende Kunststücke beizubringen und selbst gefährliche Raubtiere wie den seltenen Burda-Bären oder den Siebensat-Tiger in Schach zu halten. Wie beim Motivationstrick, bei dem einem Esel eine Möhre vorgehalten wird, um ihn anzutreiben, locken sie mit dem Geld der Kunden die Medien herbei. Daraufhin führen die Medien allerlei amüsante Kunststückchen vor wie Rabatt-Tänze, lustige ROI-Beweise und kostenlose Schaulauf-Vorführungen, um am Ende lediglich mit einem Leckerchen abgespeist zu werden.
Spektakulär ist das Kunststück mit Namen "Buridans Esel". Dabei stellt der Media-Dompteur einen Medien-Esel zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Geldhaufen. Er verhungert schließlich, weil er sich nicht entscheiden kann, welchen er zuerst fressen soll. Die Medien-Esel merken dabei nicht einmal, wie sie hinters Licht geführt werden.
Das alles gelingt den Tierbändigern nur deshalb, weil die Medien-Tiere nicht schlau genug sind, das Spiel zu durchschauen. Wären sie ihrer naturgegebenen Stärke bewusst, würden sie die Media-Dompteure auf der Stelle zerfleischen und verspeisen. Zwar kommt es unter der Zirkuskuppel gelegentlich zu Unfällen, bei denen ein Dompteur durchaus verletzt werden kann, doch Todesfälle blieben bislang aus. Die Medien-Bezwinger haben keine Angst, dass sich die Medien einmal gegen sie verbünden könnten, denn die armen, hilflosen Wesen können sich untereinander nicht einmal verständigen.
Die Zuschauer vergnügen sich am zirzensischen Geschehen wie die kleinen Kinder. Nachdem sie horrende Eintrittspreise bezahlt haben, kaufen sie noch Popcorn und Zuckerwatte in Form von völlig sinnlosen Extras und lassen das Spektakel vor ihren Augen ablaufen. Sie bejubeln die Zauberer, die Artisten, die Clowns und Dompteure. Sie klatschen frenetisch, wenn ein neues Kunststück außergewöhnlich gut gelingt. Besonderen Beifall gibt es, wenn sich die Artisten gegenseitig Awards des ADC (Allgemeinverband der Direktoren im Circuswesen) verleihen.
Sie lieben es, wenn die Media-Dompteure auf dem Rücken der Medien-Pferde und -Elefanten durch die Manege reiten, wenn sie die dämlichen Esel an der Nase herumführen. Sie jubeln, wenn der Raketenmann ihr sauer verdientes Geld mit einem lauten Knall in Rauch auflöst und er elegant in das für ihn sichere Netz fliegt. Sie staunen über die Tricks der Zauberer, die für ihr langweiliges Produkt lustige Filmchen machen, für die die Menschen ein paar Tausend Facebook-Likes hinterlassen.
Doch in jüngster Zeit entsteht ungeahnte Disruption. Es erscheinen dunkle Wolken über den Zirkuszelten. Die Tiere, heißt es, würden nicht artgerecht gehalten, ausgebeutet und vorgeführt. Man nähme ihnen ihre Freiheit, ihren Elan, gar ihren Lebenswillen. Die ehemaligen Dompteure haben plötzlich ausgedient. Immer mehr von ihnen haben keine Lust mehr auf Auftritte als Reprisenclown, verlassen die großen Zirkus-Netzwerke und suchen Anstellung bei kleineren Varietés. Hier hat man noch Respekt vor Tieren und sucht nach Media-Fertigkeiten, die richtige Wirkung bei den Zuschauern hinterlassen. Hier finden sie Anerkennung für echte Leistung ohne Pomp, Duck and Circumstance.
Der Full-Service-Zirkus ("Junge Leute zum Mitreisen gesucht") hat ausgedient. Aus dem alten Zirkuszelt ist inzwischen längst eine digitale Arena geworden. Neuartige Fabelwesen wie Pokémon GO ersetzen die Tiere aus Fleisch und Blut. Die Artisten und Zauberer werden ausgetauscht durch Software und Algorithmen. Sie tragen seltsame Namen wie DSP und bemühen sich, die digitalen Raubtiere namens SSP programmatisch zu bändigen. Alles Wissenswerte rund um den digitalen Zirkus wird einmal im Jahr auf einer Dmexco, einem riesigen Jahrmarkt der Eitelkeiten, vorgestellt.
Die ehemals begeisterten Zirkusbesucher, verbunden in der OWM (Organisation Werbender Musterschüler), haben inzwischen erkannt, dass das Spektakel unter dem Zeltdach ein reiner Unterhaltungsbetrieb war. Sie sind nicht mehr bereit, den ganzen Zirkus zu finanzieren. Sie wandern gelangweilt, unzufrieden und mürrisch ab. Die ersten basteln bereits zusammen mit neuen Zauberern wie IBM, SAP und Accenture an ihrem eigenen In-house-Vergnügungspark. So unterhaltsam wie damals ist es sicher nicht, dafür ist jeder sein eigener Zirkusdirektor.
Aber das ist kein Grund jetzt sentimental zu werden. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt. Vielleicht wird sie, allen Unkenrufen zum Trotz, doch ganz amüsant. Also: Manege frei!
Mr. Media wünscht allen Lesern, Freunden und Kritikern eine besinnliche Weihnacht und ein erkenntnisreiches, disruptives Zirkusjahr 2017.