Agenturmodell der Zukunft:
Die besten virtuellen Agenturen Deutschlands
Sie sind agil, schnell, klein und wendig. Sie kommen zusammen und lösen sich nach getaner Arbeit wieder auf. Virtuelle Agenturen machen Schule. Vier davon sind aus unserer Sicht die besten.
Mit Stephan Ganser ist die Diskussion um das Geschäftsmodell Agentur neu entfacht. Seine Neugründung Crazyredwool will alles anders machen: Keine Standardprozesse, keine Co-Finanzierung etablierter Strukturen, Vertrauensvorschuss durch enge Zusammenarbeit mit dem Kunden, verbraucherzentriertes, lösungsorientiertes Arbeiten mit den Besten der Besten.
Er will für seine Kunden jedes Projekt ganz neu angehen, dafür Experten suchen, Werber, Journalisten, das passende Team zusammenstellen, kollaborativ, agil arbeiten. Ist die Aufgabe erledigt, löst sich die Mannschaft wieder auf. Da sind frische Impulse garantiert. Eine virtuelle Agentur, geführt von Ganser selbst, customized auf Zeit.
Das Modell der virtuellen Agentur hat sich im vergangenen Jahr endgültig etabliert mit den Newcomern We Are Open von Constantin Kaloff, Tank Tank von Stefan Zschaler und Überground um Jo Marie Farwick. Orientiert haben mögen sie sich an Vorbildern wie: Try No Agency von Friedrich Tromm und Stefan Nagel, die sich mit ihrem Geschäftsmodell schon durchgesetzt haben.
Ältere Beispiele für funktionierende Werberkollektive sind Hello White Parrot um Florian Pagel, XXXXX von Niels van Hoek und Gerlachhartog von Peer Hartog; sie sind aber nicht so sichtbar.
Manche dieser virtuellen Agenturen machen alles - wie die genannten. Andere sind spezialisiert, so United Senses (Branding für Bewegtbild), Onnne (Design), Iconista (Fashion) und Venture Pursuit (PR). Mitte/Ende der 2000er Jahre entstanden schon einmal solch offene Agenturkonstrukte, meist Ein-Mann-Agenturen, die dann eingegangen sind. Die Zeit war nicht reif.
Vielleicht war den Kunden auch nicht klar, was virtuelle Agenturen wirklich leisten können. Sie eignen sich ja vor allem fürs schnelle Projektgeschäft, langfristig lassen sich Marken nur betreuen, wenn die Agenturen kleinere Teams fest beschäftigen wie das Überground oder Try No Agency tun. Allerdings birgt dies auch die Gefahr, in alte Verhaltensmuster zu verfallen, sollten die Firmen zu groß werden. Die Vorteile liegen auf der Hand: ständiger Input des Kunden, schneller Output, transparente Kostenstruktur, hohe Leistungsmotivation. Wir stellen die erfolgreichsten vier Player vor.
Überground, Hamburg
Gründung: August 2015; Inhaber: Jo Marie Farwick; Team: 12 Festangestellte; Netzwerk: Tim Kaiser, Daniel Ernsting, Nikolaus Ronacher, Jana Mohr, Ole Utikal, Elena Batrina y Manns, Stefanie Zimmermann, Christian Ruess, Simon Urban, Heike Vollmeier, Sarah Schulte-Herbrüggen, Sergio Penzo, Roman Mitterer, Ute Ressler, Danilo Klöfer; Partner: 27 Kilometer, Big Fish, Wanda, Panthalassa, Stefan & Lars, Deli Creative Collective, Not a machine, Zwei Music, Exposure One; Kunden: Audi, Lidl, Amazon, MSC, Visit Berlin, Hamburg Marketing
Jo Marie Farwick nutzt ungern das Bild vom Atom, wenn sie ihr Kreativkollektiv beschreibt. "Aber ist halt so praktisch." Um einen festen Kern bewegen sich frei die Freelancer, die sie für jedes Projekt passend zusammenstellt. Die ehemalige Heimat-Geschäftsführerin - gelernt hat sie ihr Handwerk bei Jung von Matt - kennt da gute Leute, "die sich nie anstellen lassen würden", sagt sie.
Fürs Projektmanagement hat sie inzwischen ein festes Team installiert. Mit ihr sind es dann zwölf Leute, die fest für Überground arbeiten. Überground ist umgezogen in die alte Faßfabrik nach Altona, war wohl zu klein das alles. "Kunden brauchen Verlässlichkeit", sagt Farwick, jemanden, der sich auskennt mit den Strukturen, den Problemen im Unternehmen und den Abrechnungsmodalitäten. "Das können wir mit einem festen Beratungsteam am besten leisten".
Alle anderen, ein fester Kern aus freien Kreativen, sollen sich auf das gute Werk konzentrieren. Immer frisch, neu, effizient. Wie die Weihnachtskampagne "#beautifullynormal" von Lidl zuletzt...
... oder die davor mit einer "Santa Clara". Neuerdings drehen sie einen Film für Audi Busines Innovation, "ein großes Projekt". Oder: Freeletics ganz am Anfang, wurde sogar von BMW geklaut.
Im Februar 2017 hat der ADC Überground den Titel "Rookie-Agentur" des Jahres verliehen. Der Erfolg macht Farwick stolz. Sie kann das eben gut: Bei ihr laufen alle Fäden zusammen, Beratung, Strategie, Kreation. Was nicht heißt, dass das so bleiben muss. "Die Welt ändert sich alle drei Wochen." Vielleicht holt sie sich irgendwann mal einen Partner hinzu. Wer weiß. Wichtig sei nur, dass die Arbeit Spaß bringt. Pitchen gehört übrigens definitiv nicht dazu. Das ist ihr zu teuer. Und auch nicht Flyer produzieren, bloß um irgendwelche Angestellte auszulasten wie sonst so in den traditionellen Agenturen. Das findet sie zu langweilig. Jo Marie Farwick macht eben nur, worauf sie Lust hat.
Try No Agency, Berlin
Gründung: 2011; Inhaber: Friedrich Tromm, Stefan Nagel; Mitarbeiter: 12 Festangestellte; Netzwerk: Christian Lang, Frederik Kober, Markus Ewertz, Djamila Rabenstein, Jens Hellweg, Joost van Starrenburg, Rainer Brosch, Jens Urbaniak, Marc Schumacher, Ralph Baiker; Partner: Userlutions, Cineplus, Monomango, Speakersearch, Sqeen; Kunden: Casper, Fashionette, McMakler, momox, MyHammer, N26, ScalableCapital, Shopapotheke, SmartSteuer, Sparwelt, tink, TVSpielfilm, Foodspring, Warner Brothers, Womanizer, WirKaufenDeinAuto
Die Arroganz der Etablierten hat Friedrich Tromm und Stefan Nagel damals angetrieben. "In Deutschland leben Agenturen in ihrem eigenen Kosmos und vergessen manchmal, dass es auch Leute gibt, die nicht in der Berliner Torstraße wohnen", sagt Tromm. Die beiden Kreativen konnten nicht anders und gründeten 2011 ihre eigene Agentur. Das heißt: eigentlich keine Agentur, Try NO Agency. Tromm Nagel Associates sollte das ursprünglich bedeuten, T.N.A. Try No Agency passte dann aber ganz gut ins Konzept. Die Männer wollten alles anbieten, was sie an Agenturen toll, und weglassen, was sie nicht so toll fanden. Also gute Kreation: ja, aufgeblähtes Management: nein.
"Wir waren damals für Apple beim Media Arts Lab, mal in London, mal in L.A. Aber irgendwie nicht happy. Da kamen wir dann auf die absurde Idee, uns und unsere Mitstreiter nicht zu fragen: 'Wie will ich arbeiten?', sondern: "Wie will ich leben?'", sagt Tromm. "Und weil wir bisher noch keine Agentur getroffen hatten, die auch so dachte, mussten wir halt unser eigenes Ding machen', so Nagel.
Tromm und Nagel ergänzen sich gut. Nagel ist ein Getriebener, reist gern und ist ständig am Machen. Tromm hat sich aufs Konzipieren, die Strategien verlegt. Er hat Familie und schaut, dass die nicht zu kurz kommt. Zu zweit haben sie vor sechs Jahren angefangen, heute sind sie zu zwölft. Ein kleines Kernteam für Strategie, Kreation, Produktion, Online und PR. Die brauchten sie, um ernsthaft Kunden betreuen zu können. Es wurden mit der Zeit ja immer mehr. Man lernt eben mit. Try No Agency hat sich da viel von den Kunden abgeschaut, viele davon Startups, die nicht langfristig planen können. "Da müssen wir lean bleiben", sagt Nagel. Und das wollen sie auch, denn nur so können sie ihrer Philosophie treu bleiben.
Das heißt einerseits: Loslegen statt lange verwalten, sich auf die Arbeit konzentrieren. Andererseits:Jedem im Team die Möglichkeit geben, seinem idealen Lebensentwurf möglichst nahe zu kommen. Sie bieten deshalb flexible Arbeitszeiten, überdurchschnittlich viel Zeit für Regeneration, Erfolgsbeteiligung und Boni auch schon für die jüngsten Teammitglieder. Hier ein TV-Spot aus Berlin:
Um diesen Maximen mit einem Kundenstamm von über 110 Marken treu zu bleiben, vertrauen die Berliner auf ein über die Jahre gewachsenes Netzwerk von Freien aus aller Welt. "Da sind lustigerweise neben den üblichen Verdächtigen wie Strategen, Kreativen und Producern mittlerweile auch viele Kunden dabei. Denn wer könnte einen Start-Upper in einem komplett neuen Marktsegment besser auf Augenhöhe beraten als ein anderer Start-Upper?"
Bis zu 100 freie Mitarbeiter arbeiten manchmal parallel an den Projekten. Sämtliche Dienstleistungen wie Strategie, Kreation und Produktion bietet Try No Agency auch modular an. Das Konzept der Nicht-Agentur scheint übrigens nicht nur für Start-Ups interessant zu sein, denn immer öfter werden die Berliner auch zu Pitches um Etats etablierter Marken eingeladen.
TankTank, Hamburg
Gründung: Januar 2017; Inhaber: Stefan Zschaler, Patrick Plogstedt, Alex Butaud; Netzwerk: k.A.; Partner: k.A.; Kunden: u.a. Followfood, Krebszweitmeinung.de
Das klassische Agenturmodell hat für Stefan Zschaler längst ausgedient. Deshalb wundert er sich, dass jetzt so ein Hype um Stephan Ganser und Crazyredwool gemacht wird; neu sei das Konstrukt nicht. Vor einem Jahr hat er sich schon mit Patrick Plogstedt selbstständig gemacht und nach 17 Jahren Leagas Delaney verlassen. Inzwischen ist noch ein dritter Mann dabei: Alex Butaud. Zschaler kümmert sich um Kreation und Strategie, Plogstedt um die Kundenberatung, Butaud obliegt alles Technische, die Betreuung der Freelancer, der Mann für alles, um es grob zu fassen.
TankTank sei gut unterwegs, sagt Zschaler, dieser Hybrid aus Kreativagentur und Filmproduktion. Neben Followfood und Krebszweitmeinung.de seien Ende des Jahres noch zwei bekannte Kunden dazu gekommen, aber die darf er nicht nennen. Der Unternehmer sieht zwei Probleme im Markt: Da ist zum einen der irre Margendruck, Kunden müssen sparen. Auf der anderen Seite: "Bei Agenturen herrscht großer Talentmangel, Mitarbeiter erfordern immer höhere Investments." Stehen junge Leute nicht mehr auf Agenturen, müssen die sie teuer einkaufen mit Geld, das die Agenturen nicht mehr verdienen. Finanzielle Sorgen gleich von zwei Seiten. Was tun?
Zschaler sieht die Antwort in TankTank, seiner neuen virtuellen Agentur, die ausschließlich mit Freelancern auskommt. Die besten Leute arbeiteten heute zunehmend frei, sie sind teuer, aber weil sie im abwechslungsreichen Projektgeschäft einer Agentur wie TankTank motivierter und schneller zugange seien, begleiche der Kunde am Ende auch weniger als für die Festangestellten einer Agentur. "Der Kunde bezahlt keine Overheads und mittelmäßige Teams oder überforderte Junioren einer Agentur, sondern er sieht genau, in welche Prozesse und Expertise sein Budget fließt", sagt Zschaler.
Etablierte Agenturen seien aufgrund des Kostendrucks ständig damit befasst, wie sie von ihren Kunden noch mehr Aufträge kriegen, um Abteilungen und Teams auszulasten. Das geht zu Lasten der Qualität. So wächst Misstrauen, weshalb Kunden für Alternativen offen sind wie nie. Bei TankTank, der Name ist Programm, seien die Marketer in den Kreationsprozess stets eingebunden, so Zschaler. Und das scheint alle Seiten positiv zu überraschen. "Unser Prinzip erzeugt auf beiden Seiten höchste Motivation. Die Kunden fühlen sich verstanden und wir arbeiten profitabel."
We Are Open, Hamburg
Gründung: Oktober 2016; Inhaber: Constantin Kaloff; Netzwerk: Jana Mohr, Ralf Grauel und andere; Partner: Glück Berlin, thisislove.ly, Sould etc.; Kunden: Beiersdorf u.a.
Agenturen und Phlegma sind für Constantin Kaloff ein und dasselbe: lähmende Apparate, die müde machen und den Spaß an der Arbeit trüben. Nach seinem Ausstieg als Oberkreativer von Beiersdorf bei FCB versucht es der vielfach ausgezeichnete Werber ("Geiz ist geil") seit knapp zwei Jahren mit einem neuen Geschäftsmodell. Open versammelt als loses Netzwerk lauter freie Werber – meist Kreative. Je nach Briefing formieren die sich zu einer Customized Agency auf Zeit, erledigen den Job und lösen sich wieder auf.
Kaloff glaubt an sein Modell. Ganz neu sei die Idee zwar nicht, gibt er zu. Aber vielleicht ein bisschen besser durchdacht. Denn zum einen arbeiteten für Open ausschließlich Top-Leute. Unter den knapp 60 Freelancern sind etliche ADC-Mitglieder, aber auch Berater, Strategen, Regisseure, alle nicht billig. Der Satz für einen Manntag liegt bei über 1000 Euro, wie man hört. Heads of Projects – denn Kaloff will auf keinen Fall alle Projekte selbst stemmen – bekommen mehr. Open bezahlt deutlich besser als andere Agenturen. Und: "Wir sitzen direkt beim Kunden", so Kaloff. Denn statt Aufgaben zu delegieren, arbeiteten Werber und Marketer von Anfang an zusammen. "Der Kunde kennt seine Marke selbst am besten", sagt Kaloff. Das Unternehmen trage so zwar das Risiko, dies berge aber auch Chancen. "Die Marketer sind motivierter. Ich habe noch nie so glückliche Kunden gehabt."
Open arbeitet agil. Das passt zum digitalen Zeitgeist: Prototypen stehen vor dem fertigen Produkt, verbessert wird beim Ausprobieren. Jedes Modul vom Briefing über die Entwicklung bis zur Realisation einer Kampagne kann separat angegangen und verrechnet werden. Anders als etwa Überground oder Try No Agency will Kaloff an seinem Freelancer-Konzept festhalten und kein Kernteam aufbauen. "Das hält uns frisch", sagt er. Über Kunden spricht Kaloff nicht. Es ist aber ein offenes Geheimnis, das Open viel für Beiersdorf macht. Aber auch andere Unternehmen fragten an.