Tour de Start-up:
Berlin: Dickes Start-up-B oben an der Spree
Oft gleicht die Bundeshauptstadt einer einzigen Baustelle. Das gilt besonders für die Web-Branche, in der ein Start-up nach dem anderen hochgezogen wird – mit teilweise kuriosen Folgen.
Ob Next, Hy! oder Spätschicht, Start-up-Weekend, VC-Abendessen oder Online-Stammtische: Den Internet-Gründern steht in Berlin mittlerweile eine wahre Flut von Networking-Möglichkeiten zur Verfügung. "Hier ist jeden Tag ein Netzwerk-Event. Würde ich überallhin, käme ich gar nicht mehr zum Arbeiten", sagt stellvertretend Heiner Häntze, Gründer des Stempel-Service Stampfy, der im vergangenen Dezember gestartet ist. Auch seine Mitgründer hat er auf einem Start-up-Treffen kennengelernt.
Als Standort kam nur die Bundeshauptstadt infrage – nicht nur aus beziehungstechnischer Sicht. "In Berlin geht alles sehr schnell. In nur vier Tagen hatten wir ein eigenes Büro gefunden, zudem gibt es viele Geldtöpfe, die Start-ups anzapfen können", erklärt Häntze.
Doch nicht nur auf Gründer-Events lernen sich die Neu-Entrepreneure kennen: Bewegen sich Internet-Unternehmer in bestimmten Teilen Berlins, lässt sich Kontakt zur Branche kaum vermeiden. "In jeder Bar rund um die Torstraße trifft man eigentlich ein bekanntes Gesicht", sagt Julia Bösch, Gründerin des Personal-Shopping-Service Outfittery. In der Nachbarschaft sitzen der Musikstreaming-Dienst Spotify und der Fußball-Community-Betreiber Motain.
Im Stammcafé Oliv sitzt sie nicht lange, bis der erste Bekannte grüßt. Kein Wunder: Die 29-jährige Bösch ging durch die erfolgreiche Zalando-Schule und war dort für die Internationalisierung verantwortlich. Dann zog es sie in die Selbstständigkeit. "Wer diese Gründungsbegeisterung miterlebt hat, möchte so etwas auch einmal selbst machen", sagt Bösch.
Die Szene pflegt eine offene Struktur, sodass Neuankömmlinge schnell Anschluss finden. Die Nachbarschaft bestimmt aber schon das Netzwerk. "Mittlerweile haben sich verschiedene Fraktionen in Kreuzberg, Mitte und Prenzlauer Berg etabliert", erklärt Daniel Pieper vom Targeting-Spezialisten Mashero; der Werbekaufmann kommt selbst aus der Musikbranche. Es herrsche noch wenig Konkurrenz unter den Start-ups, da es genug Wachstum für alle gebe. Neben dieser fehlenden Ellbogenmentalität schätzt Pieper auch die positive Grundhaltung. "Einem Scheitern muss hier nicht mehr zwangsläufig ein lebenslanger Makel anhaften – wenn die Gründer dabei lernen", so Pieper. Das liege auch an dem Einfluss internationaler Investoren.
Den Spirit mit "revolutionärem Geist und Querdenkertum" schätzt auch Oliver Busch, der nach Ad Pepper und Parship zwischenzeitlich Start-up-Feeling beim Realtime-Advertising-Anbieter Spree7 erlebte, mittlerweile aber beim Social-Network-Betreiber Facebook angekommen ist. Das Team arbeitet in einer ehemaligen Glühbirnenfabrik nahe der Mauergedenkstätte. Dabei hat sich die Publigroupe-Tochter bewusst gegen die Mediaagenturstandorte entschieden. "Ich könnte mir ein Spree7 an Elbe, Rhein, Main oder Isar einfach nicht vorstellen", verrät Busch. Im Gegenteil, die Mitarbeiter aus den Mediametropolen reisen fast jede Woche aus Hamburg und München an. Auch für das Werbenetzwerk Plista gab es keine Wahl: "Wir haben uns für Berlin als Standort aufgrund der Attraktivität für Recruiting und Kosten entschieden", erklärt Dominik Matyka, Gründer von Plista.
Andere Start-ups kamen nicht ganz freiwillig an die Spree. So etwa beim Groupon-Klon DailyDeal, ehemals aus Hamburg. Die frühen Investoren Michael Brehm und Stefan Glänzer hatten sich nur unter der Bedingung engagiert, dass die Gründer Fabian und Ferry Heilemann mit ihrem Unternehmen nach Berlin ziehen. Bereits 2009 waren Startbedingungen wie Arbeitsmarkt sowie die Büro- und Lebenshaltungskosten günstiger als in den anderen Metropolen. Die räumliche Nähe hält auch Ron Hillmann für äußert wichtig. Berlin, für Hillmann sind das eigentlich nur die Networking-Bezirke Mitte, Prenzlauer Berg und Kreuzberg. "Hier ist man weltoffen, um auch Modelle zu starten, die von vornherein international ausgerichtet sind", sagt der frühere Inhaber einer Performance-Agentur.
Auch Geldgeber schließen sich dem Strom an - zuletzt gründete Ulrich Schober, Geschäftsführer der Schober Holding International, das Investment-Unternehmen Schober Ventures. Die neue Venture-Capital-Gesellschaft mit Sitz in der Auguststraße konzentriert sich auf die Branchen Marketing, Media, IT sowie E- und M-Commerce. An die nahegelegene Torstraße in ein Hinterhofhaus hat es etwa die Beteiligungsfirma Earlybird gezogen. "Zu behaupten, dass alle Investoren und Start-ups nun nach Berlin kommen müssen, ist allerdings Quatsch", betont Ciarán O’Leary, Partner bei Earlybird. Dennoch stellt auch O’Leary einen starken Berlin-Sog fest, darunter habe insbesondere Hamburg gelitten. Zwar hat es das Web ermöglicht, überall auf der Welt Plattformen aufzubauen. "Aber der Trend geht eindeutig hin zu Metropolen, die ein English-speaking, inspiring und urban environment bieten", sagt O’Leary.
Der Star der Szene heißt Rocket Internet. Der berühmt-berüchtigte Inkubator der Samwer-Brüder hat etwa Zalando hochgezogen. Weltweit arbeiten für das Unternehmen nahe der Friedrichstraße 700 Experten, knapp die Hälfte davon Informatiker. Insgesamt sind rund um den Globus aktuell über 20 000 Menschen für Beteiligungen tätig. Im Sommer vermeldete Rocket Internet in zwei Monaten über 250 Millionen Dollar an eingesammeltem Investment-Kapital für Start-ups in Russland, Südostasien und Australien. Dabei fließt eine Menge in die Länder ab, aber einiges wird – gerade zu Beginn – hierzulande verarbeitet. Auffallend: In den Berliner Räumen sitzen an manchen Tischgruppen ausschließlich Asiaten. Die Muttersprachler betreuen die Plattformen für Indonesien von Deutschland aus. Im selben Gebäude sitzt auch ein Teil der Belegschaft von Zalando. Dessen Team zählt allein 1000 Mitarbeiter in Berlin, die meisten davon am Prenzlauer Berg.
Doch gerade dieser Erfolg könnte sich zum Flaschenhals entwickeln: Nach dem Zuzug angelsächsischer Fonds bildet nicht mehr das Kapital die knappste Ressource, sondern gute Informatiker. Personalberatungen wie der Digitalspezialist iPotentials stellen fest, dass immer mehr Unternehmen um die gleichen Talente buhlen. Besonders bei Web-Unternehmen ab einer gewissen Größenordnung. Ein Mangel existiert etwa bei Führungskräften. Laut iPotential-Chefin Constanze Buchheim entfallen auf Berlin allein 65 Prozent aller Vermittlungen.
Die Berliner Player spielen dabei die Hipster-Karte. "Es ist die einzige deutsche Stadt, in die ein CEO aus San Francisco geholt werden kann", sagt Lukasz Gadowski vom Inkubator Team Europe. Die Suche im Ausland stellt aber noch eine Ausnahme dar, da sich nur wenige Unternehmen breit international aufstellen.
Der Hype hat für Berlin auch unerwartete Folgen: Eine Diebesbande hat sich auf Einbrüche bei Start-ups spezialisiert, denn diese besitzen neueste Hardware. "Ich kann nur jedem Gründer raten, eine Einbruchsversicherung abzuschließen", mahnt Outfittery-Chefin Bösch, die selbst schon Opfer eines Einbruchs wurde.
Berlin-Steckbrief:
Auswahl lokaler, vielversprechender Start-ups: 6 Wunderkinder, 9cookies, A Space For Art, Contentful, Divimove, EyeEm, Fraisr, Kirondo.de, Kiveda, Modomoto, Outfittery, Project Oona, Radcarpet, Scondoo, Segment of One, Sofatutor, Suitepad, Toroleo, Watchever, Waymate, Wummelkiste.
Auswahl etablierter Start-ups: Delivery Hero, Gameduell, Mister Spex, Motain, Motor-Talk, Plista, Rebuy, ResearchGate, Sponsorpay, Soundcloud, Wooga, Zalando.
Auswahl Geldgeber vor Ort: Atlantic Ventures, Axel Springer, BDMI, Boris Wasmuth, Christophe Maire, Earlybird, Fabian und Ferry Heilemann, Hasso Plattner Ventures, IBB, Markus Berger-de Léon, Michael Brehm, Point Nine Capital, Ron Hillmann, Schober Ventures, Torch Partners.
Auswahl lokaler Inkubatoren: Covus, Epic Companies, Hitfox, Hubraum, Microsoft Ventures, Nugg.ad, Project A, Rocket Internet, Team Europe, You Is Now.
Standortbedingungen: Vorteile: Sehr viele talentierte, hochqualifizierte, junge Menschen, Internationalität – trotz Flughafendesaster. Niedrige Lebenshaltungskosten und Mieten. Wichtiger noch: die Flexibilität des Mietmarkts. Starkes Ökosystem, Austausch von Informationen, offene Kultur. Nachteile: Wenige Partner aus etablierten Branchen. Mangel an bezahlbaren Büroflächen für größere Firmen ab 200 Mitarbeitern in der Innenstadt, Mangel an lokalen Investoren für nachfolgende Finanzierungsrunden ab einem Volumen von 1,5 Millionen Euro.
Auswahl Wettbewerbe/Events: Breakfast Club, CEO Dinner, Echtzeit, Heureka, hy!, Next, Quo Vadis, Spätschicht, Startup Camp Berlin, StartupWeekend, Techcrunch Disrupt Europe, Tech Open Air (TOA) Berlin.