Bildung:
Ausbildung für eine Welt, die es nicht mehr gibt
Kein WLAN, keine professionelle IT-Betreuung, kein Digital-Plan: Was für Unternehmen undenkbar ist, ist in den meisten Schulen Alltag.
Kein WLAN, keine professionelle IT-Betreuung, kein Digital-Plan: Was für Unternehmen undenkbar ist, ist in den meisten Schulen Alltag. Ein Gespräch mit einer Bildungsexpertin und einem Schulleiter, wie Schulen modernisiert werden können – ohne über die digitalen Möglichkeiten den Bezug zur noch sehr analogen Realität zu verlieren.
Fünf Milliarden Euro, das klingt nach viel Geld, das der Bund für die Digitalisierung der Schulen locker gemacht hat. Dazu kommen noch die Investitionen der jeweiligen Bundesländer. Doch das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein – bemängeln die, die es wissen müssen. Wenn man das Geld auf die einzelnen Schulen herunterrechnet, bleibt pro Einrichtung gerade mal genug übrig, um grundlegende Digitalprozesse und technische Ausstattung voranzutreiben.
Uwe Bettscheider, Schulleiter des Ritzefeld-Gymnasiums der Stadt Stolberg in Nordrhein-Westfalen, betrachtet den Digitalpakt als "Anschubfinanzierung": "Der Träger muss verstehen, dass IT eine Daueraufgabe ist. Die Hard- und Software, die für die Schule angeschafft wurde, muss professionell betreut und immer wieder, auch aus Sicherheitsgründen, auf den neuesten Stand gebracht werden."
Keine Firma schaffe sich ohne IT-Betreuung digitale Geräte für 1000 Mitarbeiter an. "Aber an den Schulen müssen Lehrer ohne spezielle Ausbildung die IT-Betreuung seit Jahrzehnten nebenbei machen. Auch wenn es finanziell weh tut: Schulen brauchen bei entsprechender technischer Aufrüstung den Support von IT-Profis.“
"Die Art des Unterrichts wird sich nicht ändern"
An seinem Gymnasium hat Bettscheider die Digitalisierung schon vorangetrieben und eine Cloud-Plattform für Lehrer und Schüler sowie Whiteboards und Tablets angeschafft. Das Start-up AixConcept stellt die Kooperationsplattform für Schüler und Lehrer mit Lern-Management-System aus der Cloud zur Verfügung – und betreut diese auch. Bettscheider will damit die Interaktion zwischen Schüler und Lehrer verbessern. "So kann ein Schüler, der zum Beispiel mit gebrochenem Bein zu Hause im Bett liegt, das Tafelbild am Rechner oder Smartphone in seinem Zimmer mitverfolgen.“
Außerdem können die Schüler über die Cloud interaktiv Aufgaben lösen und bei einer Gruppenarbeit ihre Arbeiten den Mitschülern zur Verfügung stellen. Nach und nach will Bettscheider alle Klassenräume mit Whiteboards, Tablets sowie digitalen Messgeräten für die naturwissenschaftlichen Fächer ausstatten. Er denkt, dass Schüler in Zukunft "keine Schulbücher mehr herumschleppen" müssen. "Die Technik bereichert den Unterricht methodisch stark. Die Art des Unterrichts wird sich nicht ändern", sagt der Schulleiter über die Digitalisierung an Schulen.
So könnten Schüler mit VR-Brillen im Fach Geschichte unter anderem das antike Rom bestaunen oder gefährliche bzw. aufwändige Experimente im Chemieunterricht sicher nachvollziehen. In anderen naturwissenschaftlichen Fächern wie Physik oder Mathematik können 3D-Modelle zum Einsatz kommen.
Aber auch beim Unterrichtsinhalt wird die Digitalisierung ihre Spuren hinterlassen: "Durch das Aufkommen der digitalen Möglichkeiten und neuen Themenfeldern muss der Allgemeinbildungsbegriff neu gedacht werden. Auf diese neue digitale Realität muss in der Schule reagiert werden – sonst übernehmen andere diese Aufgabe", warnt Bettscheider.
Sarah Henkelmann, Sprecherin des Netzwerks Digitale Bildung, sieht in den großen Veränderungen, die den Schulen bevorstehen, eine Mammutaufgabe: "Momentan müssen sich Bildungseinrichtungen mit Inklusion, Integration und Digitalisierung beschäftigen. Dazu kommt eine Fülle an Inhalten, die sie vermitteln sollen. Wir müssen die Lehrpläne entschlacken und fragen: Was ist noch relevant? Digitalisierung soll ein Querschnittsthema in jedem Fach werden."
Keine Digitalisierung ohne die passende Infrastruktur
Aber soweit ist die Debatte, wie man die Schüler für die Welt von morgen fit macht, noch lange nicht. Denn es gibt ein drängendes Grundproblem: "Wenn die Internetverbindung läuft, dann läuft alles“, sagt Bettscheider. Die läuft aber nicht immer. So ergeht es vielen deutschen Schulen, weiß Henkelmann. "Zwar hat jeder Schüler inzwischen sein eigenes Gerät und könnte mit browserbasierten Anwendungen auf Lerninhalte zugreifen. Es hapert aber einfach zu oft noch an der fehlenden Netzwerk-Infrastruktur. “
Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) in diesem Frühjahr gibt es nur in jeder dritten Schule in allen Klassen- und Fachräumen Zugang zu schnellem Internet und WLAN. In Osteuropa sei man da schon viel weiter, meint Henkelmann.
Aber wie weit sollen die Schulen überhaupt digitalisiert werden? Besteht dann nicht Gefahr, dass die Schüler am Handy daddeln statt aufzupassen? Diese Kritik versteht Henkelmann: "Bei der Ausstattung bleibt schon die große Frage: Braucht wirklich jeder Schüler einen Rechner? Welchen pädagogischen Mehrwert hat das?"
Eine Frage, die sich die Schulleiter im ganzen Land stellen müssen. Bettscheider weiß, was er nicht will: Edutainment, die spielerische Wissensvermittlung durch Fernseh- oder Computerprogramme eignet sich aufgrund des notwendigen Entwicklungsaufwandes und der Anpassung an vorgegebene Lehrpläne nicht für den allgemeinen Schulunterricht, sagt er. "Die Studie von John Hattie belegt darüber hinaus, dass die Lehrer den größten Einfluss auf den Lernerfolg haben, daher kann der Computer nur Motivation und Hilfsmittel sein."
Und Lehrer werden bei der Digitalisierung die wichtigste Rolle spielen. Laut Henkelmann wird mit den Lehrern "der Erfolg der Digitalisierung der Schule stehen und fallen". Doch die Lehrer können die Schüler kaum ins digitale Zeitalter bringen, wenn sie dabei alleingelassen werden. "Deshalb muss man vor allem in Lehrer-Fortbildungen investieren, damit sie die Digitalisierung verstehen und vermitteln können. Sonst ist es, als würde man jemandem ein Auto schenken, der keinen Führerschein hat."
Lehrer bewerten ihre Ausstattung mit "befriedigend"
Wenn man die Lehrer selbst fragt, sind diese digitalen Neuerungen gegenüber durchaus aufgeschlossen, stellen dem Digitalpakt und den realen Bedingungen vor Ort aber eher schlechte Noten aus: Laut einer Umfrage des IT-Verbands Bitkom sind nahezu alle befragten Lehrer der Ansicht, dass die Schulen in Deutschland bei der Digitalisierung im internationalen Vergleich hinterherhinken. Die technischen Voraussetzungen ihrer eigenen Schule bewerten die Lehrer auf einer Notenskala demnach gerade noch mit "befriedigend" (3,3).
Nahezu alle befragten Lehrer sind der Meinung, dass die angekündigten Mittel des Digitalpakts nicht ausreichen. Mehr als die Hälfte gab an, dass sie gerne häufiger digitale Technik einsetzen würden. Allerdings scheitern sie an fehlenden Geräten (58 Prozent), an fehlenden pädagogischen Konzepten (13 Prozent) oder an ihren eigenen Digital-Kenntnissen (12 Prozent). Viele haben auch Angst, dass die Technik während des Unterrichts versagt.
Das zeigt: Bei der Umsetzung des Digitalpakts wird es nicht nur um die Ausstattung gehen, sondern auch um die Aus- und Weiterbildung von Lehrern sowie um einen Medienentwicklungsplan – "in dem der Einsatz von Technik didaktisch fundiert festgelegt wird", erklärt Henkelmann. Sie schlägt eine nachhaltige Planung vor: "Wenn man die Schulen von heute auf morgen mit neuen Technologien zupflastert und dann nicht mehr weitermacht, dann funktioniert das nicht. Anfangs würde es sich fast lohnen, eher Schritt für Schritt die Netzwerk-Infrastruktur und Ausstattung auszubauen. So kann das gesamte Kollegium und die Strategie mitwachsen, neues Arbeitsmaterial und Fortbildungskulturen entstehen – damit wir alle mitnehmen können."
"Unser Schulsystem ist gleichförmig und (...) auf die Industrialisierung ausgerichtet"
Bettscheider findet den Digitalpakt grundsätzlich gut. "Ich hoffe aber, dass die Gemeindeträger dann nicht denken, dass sich das Thema damit erledigt hat. Das muss langfristig finanziert werden. Außerdem hilft das Geld nicht, wenn es zum Beispiel kein vernünftiges Medienkonzept an der Schule gibt und die Rechner dann in der Ecke stehen." Das sieht auch Henkelmann so: "Wenn der Lehrer mit Smartboards überfordert ist, dann landen sie in der Ecke."
Der Digitalpakt ist zwar auf fünf Jahre ausgelegt, doch Henkelmann sieht darin eher den Anfang eines Entwicklungsprozesses, der 15 bis 20 Jahre dauern wird: "Es geht um die Ausbildung ganzer Generationen in diesem Land, das hat die Politik eingesehen. Es gibt riesigen Nachholbedarf, weil seit Jahrzehnten nicht mehr investiert worden ist."
Ihrer Meinung nach müsste das Schulsystem noch viel grundlegender umgekrempelt werden: "Unser Schulsystem ist gleichförmig und wurde seit Jahrzehnten nicht verändert - es stammt noch aus Kaisers Zeiten und ist auf die Industrialisierung ausgerichtet. Die Industrialisierung ist aber abgeschlossen, es geht jetzt viel mehr um Digitalisierung und Dienstleistung – wir bilden für eine Welt aus, die es nicht mehr gibt. Schüler müssen kritisches Denken und Ethik lernen, sie müssen wissen, welche Rechte sie haben. Viele schließen die Schule ab, ohne digitale Grundlagen erlernt zu haben - das muss sich ändern. In jedem Beruf arbeitet man heutzutage mit digitalen Tools – auch ein Gärtner muss am Laptop planen können. Wir müssen mutig in das digitale Zeitalter starten."
"Schulen brauchen einen 'State of the Art'-Zugang zur digitalen Welt - Politik und Verwaltung müssen erkennen, dass das eine Daueraufgabe ist. Die IT-Welt dreht sich schneller als die der Politik und Verwaltung“, fasst Bettscheider zusammen.
Dieser Artikel ist zuerst bei lead-digital.de erschienen. (Stand 2019)