Stefan Setzkorn:
Air Berlin: Erinnerungen eines Werbers
Was bleibt von Air Berlin? Viele Erinnerungen, aufgeschrieben von Stefan Setzkorn. Er hat die Marke lange betreut.
Im Jahr 1991, als Joachim Hunold Air Berlin von den Amerikanern übernahm, gab es noch kein Internet, keinen Content und keine Virals, und Storytelling war maximal etwas für Drehbuchautoren. Doch die Airline, die angetreten war, um das Fliegen zu demokratisieren und für alle möglich zu machen, setzte schon damals andere Standards in Sachen Kommunikation.
Es begann mit der Erfindung des "Mallorca Shuttles". Andere hätten ihn vielleicht Sonnenflieger oder Mallorca-Direktverbindung genannt oder ihn mit einem ähnlich inspirationslosen Namen belegt. Doch der "Mallorca-Shuttle" generierte schon Buzz, als Buzzgenerieren noch gar nicht erfunden war. Alle sonnenhungrigen Deutschen wollten in den "Mallorca-Shuttle".
Auch deshalb, weil Air Berlin die ungeschriebenen Regeln des Fliegens einfach mal außer Kraft setzte: Fliegen ist was für Besserverdienende? Nicht bei Air Berlin. An Bord herrscht eine Zweiklassengesellschaft?
Nicht bei Air Berlin. Kategorisierung und Unterscheidungen, wer wo zu sitzen hat, und wer was serviert bekommt gab es jahrzehntelang nicht. Ganz zu schweigen von Business-Class-Plätzen auf Europaflügen. Bei Air Berlin konnten Familien mit nervigen Kindern genauso in den ersten Reihen sitzen, wie Backpacker und Businessreisende. All das wurde weniger beworben, als dass es weitererzählt wurde.
Die schwäbische Stewardess wurde zum Viralhit
Joachim Hunold hatte eine Marke geschaffen, die Gesprächsthema war. Und die immer für neuen Gesprächsstoff sorgte. Der Service war freundlicher, witziger, moderner und jünger. Die Crew durfte frech und lustig sein, wenn sie wollte. Bis hin zur "schwäbischen Stewardess" die ihre Durchsage in Mundart gemacht hatte und dadurch nicht nur zum Viralhit wurde, sondern auch auf dem Titelblatt der Bild landete.
Ein Grund dafür, dass es so viel über Air Berlin zu erzählen gab, war die gelebte Haltung. Man war offen, freundlich, menschlich und einfallsreich. Eine kleine Frage vom Boardpersonal "Süß oder salzig" wurde zum geflügelten Wort. Und sie wurde natürlich ausnahmslos allen Fluggästen gestellt.
Der genialste Marketing-Schachzug war das legendäre Schokoherz, das jedem Fluggast beim Aussteigen angeboten wurde und das jeder kennt. Noch 2013 flogen 33 Mio. Schokoherzen zu 800 Zielen weltweit. Ein Invest das jährlich bei über bei 2 Mio. Euro lag. Dafür hätte man alternativ aufwendige TV-Spots drehen können – die Frage ist nur, was mehr bewegt hätte und und genauso gut in Erinnerung
geblieben wäre.
Currywurst in 10.000 Meter Höhe und natürlich: Schokoherzen
2014 wechselte Air Berlin übrigens den Schokoherz-Lieferanten. Nicht Rausch, sondern Lindt lieferte die begehrten Dankeschöns. Air Berlin lieferte den nächsten Content. Das Netz diskutierte eifrig welche die bessere Schokolade ist.
Nicht minder brillant war die Idee, die Sansibar-Currywurst in 10.000 Meter Höhe zu servieren. Eine Kombination aus Berliner Imbiss und Sylter Schick, die ausdrückte, wofür Air Berlin stand: privilegiertes Reisen für alle. Über kein anderes bordgastronomisches Angebot wurde in der Geschichte der Luftfahrt mehr gesprochen – mal abgesehen vom Tomatensaft. Zu Spitzenzeiten wurde die Currywurst über 1000 Mal am Tag serviert.
Dass sogar Werbung zum Content werden kann, bewies Air Berlin mit dem konsequenten Einsatz des
Models Judith Dommermuth. 10 Jahre lang verkörperte sie die Air Berlin-Stewardess. Diese Konsequenz (und ihre Hochzeit mit einem sehr reichen Internetunternehmer) brachte sie in Talkshows, in die Bild, in die Bunte, in die Gala. Die Konsequenz: Bis heute kein Artikel über Deutschlands bekanntestes Werbegesicht ohne Markennennung von Air Berlin.
Mallorca, Weihnachten, Airtramp - eine Fluglinie mit Geschichten
Die Liste der Ideen, mit der Air Berlin sich ins Gespräch brachte, ließe sich beliebig fortsetzen. Von immer wieder neu gebrandeten Weihnachtsfliegern, die seit 2011 jedes Jahr durch Europa flogen mit Weihnachtsmann, Lebkuchenherzen und Glühwein an Bord. Das Netz ist voll von Fotos dieser Flieger.
Oder 2014 als Air Berlin den ersten Tramp-Flug der Welt durchführte, der Kurzentschlossene in Berlin per Bus einsammelte und kostenlos nach New York, Abu Dhabi, Rom, Miami und Kopenhagen flog. Alles clevere Ideen, die den Weg in die - mittlerweile erfundenen - sozialen Medien und in die Herzen jungen Menschen fanden.
Doch leider gab es im Storytelling von Air Berlin einen zweiten Handlungsstrang: Den von Missmanagement und strategischen Fehlern. Man verhob sich mit der Übernahme von dba und LTU. Das Management wechselte gefühlt im Takt der Mallorcaflüge. Hartmut Mehdorn setzte zur Sanierung auf den immer noch nicht existierenden Flughafen BER.
Der Teilverkauf an Etihad nahm der Air Berlin die Seele. Die Airline aus Abu Dhabi hatte nie die Marke Air Berlin, sondern nur ihr eigenes Interesse im Kopf, vor allen die Flugstrecken von Air Berlin und Business-Class-Geschäft auszubauen für die reichen Scheichs.
Nun ja. Ob man die Marke hätte retten können, wenn man sich stärker aufs Kerngeschäft und weniger auf Weltherrschaftsfantasien konzentriert hätte – müßig, darüber zu sinnieren.
Fakt ist: Air Berlin hat eine Markenbekanntheit von 96 Prozent und war über Jahrzehnte die Lieblingsmarke der Deutschen. Wie sie dazu wurde, bleibt auch weit über ihr tragisches Ableben hinaus ein Paradebeispiel für modernes Marketing: mit einer klaren Haltung, mit großer Konsequenz und dem Talent, immer erzählenswerte Dinge zu tun.
In unseren Herzen sollte Air Berlin weiterfliegen.
Stefan Setzkorn, Kreativchef und Geschäftsführer der Agentur Honey, hat bis 2016 als Kreativchef von Track (davor: Rapp (Collins)) sechs Jahre die kreative Markenführung und Werbung von Air Berlin verantwortet und in dieser Zeit vier CEOs kommen und gehen sehen. Track hat den Etat von 2008 bis 2016 betreut.