
20 Jahre Mauerfall: Blutendes Land, blühendes Land
Lebendige Städte, Regionen im Kampf gegen Verödung und ungebremster Unternehmergeist. Im Jubiläumsjahr 20 Jahre Mauerfall passt Ostdeutschland in kein Klischee. W&V besuchte Medien-, Marken- und Agenturmacher im Osten. Reportage mit Bildergalerie.
Etwas gespenstisch sieht es derzeit im Zeitungshaus des Nordkurier aus. 1994 hat der Verlag das geräumige Gebäude auf dem Datzeberg über Neubrandenburg bezogen. Wo noch bis vor Kurzem die 30-köpfige Mantelredaktion arbeitete, wurden die Tische abtransportiert, Kabel ragen aus dem grauen Teppichboden, den Mantel bezieht der Nordkurier aus Schwerin.
Dort, im Südosten Mecklenburgs, versucht Chefredakteur Michael Seidel unter erschwerten Bedingungen Journalismus zu machen. 20 Jahre nach der Wende ist die schöne Region weniger blühende als blutende Landschaft: An die 100 000 Einwohner hatte Neubrandenburg, übrig geblieben sind wenig mehr als 60 000. Vor allem junge, gebildete Frauen ziehen weg und nehmen ihre noch ungeborenen Kinder mit. Beim Nordkurier ist man stolz, dass die Auflage mit 2,5 Prozent jährlich weniger schnell schrumpft als die Einwohnerzahl – von 130 000 im Jahr des Mauerfalls auf derzeit um die 93 000.
In manchen Gemeinden der Region erobern Rechtsradikale den öffentlichen Raum. Redakteure riskieren Drohungen, wenn sie darüber schreiben, sagt Seidel. Er versucht, den Redakteuren den Rücken zu stärken. Doch die Personaldecke ist dünn. Wie auch das Bewusstsein für Streitkultur und Eigeninitiative in der Region – immer noch.
Andererseits: Die einst maroden Innenstädte sind herausgeputzt, der Braunkohlenebel, der zu DDR-Zeiten über allem schwebte, verzogen. Weber Maschinenbau sitzt in Neubrandenburg, auch der Autozulieferer Webasto. Viel mehr Betriebe wurden aber plattgemacht. „Die Ambivalenz zwischen dem erlebten Aufbau und dem Niedergang in einigen Bereichen ist immer da“, sagt Seidel.
Der gebürtige Wernigeroder studierte am „roten Kloster“ in Leipzig Journalismus, beobachtete dort, wie ein mutiger Haufen Demonstranten unter dem bedrohlichen Aufmarsch der Bereitschaftspolizei die Bewegung lostrat, die am Ende die Mauer zu Fall brachte.
Auch im SED-Propaganda-Organ Freie Erde, das der Nordkurier zu DDR-Zeiten war, regte sich im Wendeherbst Widerstandsgeist. Das Blatt brachte etwas über den Schweigemarsch des Neuen Forums. Die Teilnehmerzahl wurde allerdings von 3500 auf 300 herunterredigiert. Dann ging es Schlag auf Schlag. Am 3. Dezember zog ein Demonstrationszug vor das Verlagsgebäude der Freien Erde und forderte wahrheitsgemäße Berichterstattung.
Die Redaktion bildete ein Reformkomitee, erklärte die Zeitung für unabhängig, entledigte sich der SED-Altkader in den eigenen Reihen und ließ die Leser über einen neuen Namen abstimmen. Seidel, der 1995 als Landeskorrespondent zum Nordkurier kam, hospitierte nach der Wende beim ZDF und machte sich als Reporter für Landespolitik beim NDR in Schwerin einen Namen. Anfangs hatten den heute 44-Jährigen Zweifel geplagt, ob er trotz „Rotlichtbestrahlung“ ein guter Journalist sein könne. „Wir Journalistikstudenten waren gewiss keine Widerstandskämpfer, aber auch nicht total verblendet. Bei manchen ist dann regelrecht der Knoten geplatzt“, sagt Seidel. Ungeheuer spannend, den Aufbruch eines Landes zu begleiten.
Die politischen Fesseln sind gesprengt, heute drücken die wirtschaftlichen Zwänge. 2009 sind die Räume fürs Zeitungsmachen wieder eng geworden.
Nudelmacher haben es da einfacher. Besonders wenn sie wie Teigwaren Riesa auf die Treue der Ostdeutschen zählen können. In Ostdeutschland verweist die Nudelmarke aus der ehemaligen Stahlstadt an der Elbe mit 30 Prozent Marktanteil jedenfalls alle Westmarken auf die Plätze. Dabei wollte die damalige Besitzerin – der Verband der Konsumgenossenschaften – das Werk in Riesa 1991 eigentlich schließen. Als die geplante Partnerschaft mit Birkel platzte, wurden 250 Mitarbeiter entlassen. Doch 1992 biss der schwäbische Familienunternehmer Klaus Freidler an.
Am Anfang war es ein Kampf. Kurz nach der Wende fielen die westdeutschen Handelsketten in den Osten ein. Noch bevor sie Läden aufmachten, bauten sie ihre Verkaufszelte auf öffentlichen Plätzen auf, legten sie mit Paletten aus und stellten Regale mit Westprodukten auf. „Es war wie Jahrmarkt“, sagt Stefan Kuhl. Der damals 17-Jährige aus Finsterwalde ist heute Leiter des Riesa-Nudelwerks.
Die Ostnudel hatte die ersten Jahre kaum eine Chance auf einen Platz im Regal. Und so haben die tapferen Nudelmacher ihr Produkt anfangs in Lieferwägen verpackt und auf den Wochenmärkten direkt verkauft. Dabei wurde von den Essern nicht immer dankbar aufgenommen, dass die Nudeln dank regelmäßiger Hartweizenzufuhr im Teig nicht mehr so pappig waren wie zu DDR-Zeiten. „Es gab schon mal Theater, weil die Leute eben die weiche Nudel gewohnt waren“, sagt Kuhl.
Die Neugier der Ostdeutschen auf Westprodukte hatte sich irgendwann erledigt. Sie merkten, dass „ihre“ Produkte verschwanden, und wollten ihre DDR-Marken wieder. Es war zu dieser Zeit, etwa 1993, da schaffte es Riesa mit einer neuen Verpackung endlich auch in die Handelsregale.
Als Underdog aus dem Osten gestanden die Händler Riesa allerdings zuerst nur das untere Preissegment zu. Kuhl: „Wir waren der billige Jakob, hatten aber den Fuß in der Tür.“ Als Riesa 1994 auch das Premium-Segment entern wollte, wiegelten die Händler ab – bis sie merkten, dass Riesa besser verkaufte als alle anderen Marken. „Bis dahin mussten wir schon ein paar Jahre hartnäckige Überzeugungsarbeit leisten“, sagt Kuhl.
Ähnliches widerfährt dem Wirtschaftsingenieur nun bei der Eroberung des Westens. In einigen Märkten in Nordfriesland oder Kiel hat Kuhl einen Regalplatz ergattert. Doch die großen Händler stellen sich stur. Also greift der 37-Jährige auf die historisch erprobte Methode zurück – den Direktverkauf. Der findet 20 Jahre später aber nicht mehr vom Lieferwagen aus statt, sondern – bis auf Weiteres – auf Verbrauchermessen.
Viel Enthusiasmus brauchen auch die Macher des lokalen TV-Senders Oder-Spree-Fernsehen. Auf dem Weg zum Studio in Eisenhüttenstadt ziehen Kolonnen polnischer Lkws vorbei. Menschen sieht man in der Gegend um das Stahlwerk Eco kaum. Die Einwohnerzahl von Eisenhüttenstadt – zu DDR-Zeiten Stalinstadt – ist nach der Wende um ein Drittel geschrumpft, auf nur noch 30 000 Menschen. Nahe an der polnischen Grenze, aber ohne Bezug zum nahen Nachbarn machen die Brüder Gerd Priewisch, 56, und Ralf Priewisch, 52, täglich eine halbe Stunde Lokalnachrichten, tägliche Magazine und eine Talksendung.
Der Jüngere hat in der DDR Maschinenbau studiert. Später, als man ihm sagte, ohne Parteieintritt könne er als Ingenieur nichts werden, hat er sich in ein Zweitstudium Informatik geflüchtet. Der Ältere der Priewischs war Elektromonteur. Beide waren Hobbyfilmer. 1994 schrieb die Landesmedienanstalt die Lizenz aus, die Brüder bewarben sich, bekamen den Zuschlag und machten ihr Hobby zum Beruf.
Wegen kritischer Berichte lagen sie bald im Clinch mit der Stadt. Ralf Priewisch: „Wir hatten Demokratie und wollten das ausleben.“ Als Amateurjournalisten mussten die Brüder noch am Handwerk feilen. Es gab Klagen und die Lokalpolitiker gaben keinen Pfifferling auf das Überleben des Senders. Der Sender wird heute 15 Jahre alt. Dabei half, dass sich die Priewischs über Weiterbildungen beim RBB journalistisch auf Vordermann brachten und professionelle Journalisten an Bord holten. Priewisch: „Vom Niveau eines offenen Kanals haben wir einen deutlichen Qualitätssprung nach vorne gemacht.“ Geld verdienen sie mit dem Verkauf regionaler Produkte über den Sender, mit Image-Filmen für Unternehmen und ein bisschen regionaler Werbung. Nichts, womit man reich werden kann.
Gibt es eine Zukunft im Wegzugsgebiet? Gerd Priewischs Sohn glaubt das, er will das Lokalfernsehen weiterführen. Ralf Priewischs Tochter studiert Medienwissenschaften in Köln. Sie will auf keinen Fall in die Region zurück.
In einem Villenviertel im Dresdner Süden haben sich der Schrift- und Grafikmaler Olaf Schumann und Michael Schmidt, Diplom-Ingenieur für Werkstoffkunde, in einer Nische abseits des Werbeglamours eingerichtet: Mit Blick ins Grüne machen die mehrfach preisgekrönten Werber seit 2001 einfache Werbung für sperrige Technologieprodukte.
Eine abenteuerliche Geschichte rankt sich um Schumann und sein Elternhaus. Der Dresdner, gerade 19 Jahre alt, tut Dienst bei der Volksarmee. Bekannte, die in den Westen flüchten wollen, werden von Schumann und seinem Bruder mit heiklen Infos versorgt, zum Beispiel darüber, an welchen Tagen die Grenzposten den Schießbefehl aussetzen. 1982 fliegen die Brüder auf. Zweieinhalb Jahre sitzen sie im Cottbusser Gefängnis, bis die Bundesrepublik sie freikauft. Schumanns Eltern hatte der Staat das Haus genommen und die Arbeit. Nun waren auch die Söhne weg. In Berlin schreibt sich Schumann an der Hochschule der Künste ein.
Als die Mauer fällt, klingeln ihn Freunde aus dem Bett. Schumann: „Ich bin zur Mauer, traute mich aber aus Schiss vor der Stasi noch nicht, rüberzugehen.“ Noch im selben Jahr kehrt Schumann in seine Heimatstadt zurück. Im Schlepptau hat er Thomas Heilmann und Sebastian Turner. Sie wollen im befreiten Land eine Werbeagentur gründen. Das geht nur, wenn ein DDR-Bürger die Mehrheit hält. Und so steigt Schumanns Mutter Lore mit 51 Prozent ein. Die Jungwerber von Delta Design, später Scholz & Friends Dresden, werkeln in einem kleinen Zimmer im Elternhaus, begleitet von Lores Sprüchen (Bevor man fertig ist, muss man erst mal richtig anfangen). Die Lebensklugheiten von Lore Schumann hat Turner Jahre später in dem Büchlein Lore’s Law gewürdigt.
Rasend schnell veränderte sich alles. „In einer Woche wurden bei den Unternehmen die Porträts von Stoph und Honecker abgehängt, in der nächsten flogen die Sprelacartmöbel raus“, erinnert sich Schumann. Für Scholz & Friends Hamburg adaptierte das Trio Westkampagnen für den kulturell anders gestrickten Osten. Doch die ehrgeizigen Werber wollten mehr sein als Ostkenner und gingen Mit S&F nach Berlin. 2001 kommt Schumann zurück, renoviert die Familienvilla und macht mit Michael Schmidt eine eigene Agentur auf. Die Eltern bewohnen die Etage über der Agentur.
Sie seien „fichelant“, anpassungsfähig, sagen die Sachsen über sich selbst. Und, wie alle Ostdeutschen, „emotional besser gerüstet als Westdeutsche, mit Veränderungen umzugehen“, glaubt der 48-Jährige. Schumann könnte nun bis ins Alter gemütlich vor sich hinarbeiten. Daraus wird aber wahrscheinlich nichts: „Es ist eine ganz amüsante Vorstellung, sich noch mal zu verändern. Das wird sicher irgendwann passieren.“
Wer sich über Haarnadelkurven, Berg und Tal tief in den Thüringer Wald gräbt, glaubt, es müsse am Ziel einen verwunschenen Quell geben, aus dem Vita Cola fließt. Der Quell stellt sich als millionenteure Abfüllanlage heraus – im Gewerbegebiet des ansonsten malerischen Fachwerkstädtchens Schmalkalden. Zu DDR-Zeiten füllten dort 300 Mitarbeiter des Getränkekombinats Rennsteig-Meiningen die „Brauselimonade mit Frucht- und Kräutergeschmack“ in Flaschen ab. Der volkseigene Betrieb war eine von 200 Brause-Abfüllanlagen der DDR. Der Cola-Grundstoff wurde in Monatsportionen zugeteilt. Wenn er alle war, was in heißen Sommern oft passierte, gab es eben keine Cola mehr. „Die Betriebe waren froh, wenn der Sommer verregnet war“, erinnert sich Kerstin Räthlein. Die 50-jährige Gebietsverkaufsleiterin arbeitet seit 22 Jahren im Betrieb. Zu DDR-Zeiten steuerte sie Zuteilung und Bilanzierung der Brause.
Die Wende fegte Vita Cola vom Markt. Fachhändler und Restaurantbetreiber, die Räthlein seit Jahren kannte, wollten ihr von einem Tag auf den anderen nichts mehr abkaufen. Sie solle doch „wegbleiben mit Erichs Ost-Cola“, sagten die Leute. „Früher habt ihr sie uns zugeteilt, jetzt wollen wir nicht mehr.“ Was alle wollten, war die Cola der Kapitalisten, die früher nur über Westkontakte zu bekommen war. Fast 260 von 300 Beschäftigten wurden entlassen. Vita Cola war tot, das Rezept verschwand im Giftschrank der Chemiefabrik Miltitz bei Jena. Nur Wasser und ein paar Limos wurden in Schmalkalden noch abgefüllt, die Laura-Quelle hieß nun Thüringer Waldquell. 1994, der Betrieb hatte zum zweiten Mal den Besitzer gewechselt und gehörte Brau + Brunnen (Oetker), erspürten Außendienstmitarbeiter die aufkeimende Ostalgie. Kleine Testmengen Vita Cola wurden abgefüllt – nach Original-DDR-Rezept mit dem Original-Etikett.
Es funktionierte: „Erichs Ost-Cola“ war für die Ostdeutschen zu „ihrer Cola“ geworden. Und sie bleibt es ganz offenbar: 20 Jahre nach dem Kollaps ist Vita Cola in Ostdeutschland mit 17,2 Prozent Marktanteil Nummer zwei hinter Coca-Cola, und weit vor Pepsi.
Ganz besonders gefällt sich Thüringen heute in der Sonderrolle des kleinen gallischen Dorfs: Dort ist Vita Cola mit 39,4 Prozent Marktanteil stärkste Cola-Marke vor dem globalen Giganten Coca-Cola. Vom Geschmack dieses wunderlichen Waldvolks irgendwo in Germany wollten sich die mächtigen Manager aus Atlanta dann doch einmal selbst überzeugen. Auf der Anuga-Messe ließen sie sich am Vita-Cola-Stand ein Probeglas einschenken und informierten sich über das Thüringer Geheimnis.
Wer auf die Chemnitzer Werber Tino Lang, 39, Thomas Pfefferkorn, 39, und Joerg G. Fieback, 38, trifft, mag kaum glauben, dass diese Boygroup bereits seit 19 Jahren erfolgreich Werbung macht. Mit ihrer Agentur Zebra hat es das Trio im vergangenen Jahr auf Platz 45 der inhabergeführten Werbeagenturen gebracht und etliche Kreativpreise eingeheimst.
Die Schulfreunde waren 19, als die Mauer fiel. Texter Tino Lang hatte jahrelang die Werbespots im Westfernsehen aufgesogen und als Praktikant bei Turner in Dresden erste Zeilen getextet. Fieback, der Zeichner, hatte ein Grafikstudium begonnen und verdiente sich mit Logo-Entwürfen erstes Geld. Pfefferkorn erlernte im Kunsthandwerksladen seiner Eltern das Kaufmännische. Die Freunde beschlossen, sich den Traum von einer eigenen Agentur zu erfüllen. „Da war diese unternehmerische Euphorie. Wir sagten, komm, lass uns gemeinsam Geld verdienen!“, erzählt Fieback. In der Garage des Pfefferkornschen Ladens, augerüstet mit einem Kopierer, den der Onkel aus dem Westen gestiftet hatte, legte Zebra 1991 los.
Überall schossen kleine Werbebutzen wie Pilze aus dem Boden.Viele gingen wieder ein, Zebra nicht. Sie holten sich eine Ostmarke nach der anderen, Diamantrad, Bautzner Senf, Zetti-Knusperflocken, Florena. Zebra wurden die Ossi-Versteher für Westfirmen, die gemerkt hatten, dass der Osten anders funktionierte. Gelacktes Voodoo-Marketing, auch die in Westmanager-Kreisen übliche Protzerei und Ellbogen-Mentalität kamen dort nicht an. Mit der jugendlichen Begeisterung der Gründer kamen die Ostkunden besser klar: „Wir hatten die emotionale Intelligenz, die im Westen erst Ende der 90er Thema wurde“, sagt Lang. Die unterschiedliche Sozialisation wirke bis heute noch nach.
In der Zebra-Villa im Chemnitzer Süden arbeiten heute 35 Leute. Nur drei Westdeutsche haben sich in das ehemalige Karl-Marx-Stadt gewagt. Einige Westkunden haben sich Zebra ebenfalls anvertraut. Meist konnten sich die Werber aber erst über ihre Arbeiten für die Ostmarken im Westkonzern „einschleusen“ – Bautzner bei Develey oder Sachsenmilch bei Müller. Immer noch werden die Ostdeutschen als Exoten auf Pitches geladen. Das dürfte sich in den nächsten 20 Jahren ändern.
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