- Der Konzern setze stark auf Billigkräfte, die stets auf Abruf bereit stehen müssen. Denn die Personalplanung werde an die Umsatzzahlen geknüpft. So würden viele geringfügig Beschäftigte immer wieder kurzfristig eingesetzt oder abgezogen.

- Auch Lehrlinge oder Praktikanten - rund 6.000 sind es im Konzern - leisten viele unbezahlte Überstunden, würden wie Stammpersonal eingesetzt und seien teilweise sogar alleine für Läden verantwortlich.

Der Journalist Verheyen sprach für den Report mit ehemaligen und immer noch bei Netto beschäftigten Mitarbeitern, Lehrlingen, Verdi-Vertretern und Wissenschaftlern in ganz Deutschland. Und das Team beobachtete mehrere Netto-Filialen, um herauszufinden, wie lange dort tatsächlich gearbeitet wird. Während Netto schriftlich mitteilt, dass der Arbeitsbeginn für die Frühschicht stets um 6.30 Uhr sei, filmte das SWR-Team schon um 6 Uhr die ersten Angestellten im Laden.

Eine ehemalige stellvertretende Marktleiterin berichtet sogar von manchen Arbeitstagen, die von 5.30 Uhr bis 22.30 Uhr gedauert hätten. Aber nur 7,5 Stunden seien bezahlt worden. "Das ist normaler Netto-Alltag." Ihre Begründung für diese "freiwillige Leistung": "Wenn man Verantwortung trägt als Marktleiter, dann hat man das einfach zu machen. Man muss dafür gerade stehen, dass der Laden in Ordnung ist. Egal wie." Und weil man die Kollegen nicht so lange arbeiten lassen wolle, mache man eben vieles selber. "Wenn man es nicht macht, gibt es sofort wieder Ärger."

Auch Buchautorin Ulrike Schramm de Robertis (im Video 11:45 min) kennt diesen Druck. Sie hat in ihrem Buch "Ihr kriegt mich nicht klein" über ihre 15-jährige Erfahrung als Discounter-Mitarbeiterin geschrieben und berät heute Netto-Beschäftigte im Auftrag der Gewerkschaft Verdi. Sie erzählt, dass zunächst der Stolz auf die geleistete Arbeit sie angetrieben hätte, unbezahlte Überstunden zu leisten. Denn dafür gebe es durchaus Lob und Anerkennung seitens des Unternehmens. Doch auch in ihrer Freizeit habe man von ihr als verantwortliche Filialleiterin erwartet, ständig erreichbar zu sein. Das Handy war immer dabei, sie war immer auf Abruf. Mitarbeiter, die sich weigerten, unbezahlte Überstunden zu leisten, würden von Vorgesetzten unter Druck gesetzt. Aber nicht nur von diesen. Sondern auch von den Kollegen. Ein System des psychologischen Drucks, der Netto offenbar gute Dienste leistet.

Ein ehemaliger Verkaufsleiter berichtet, dass er die Anweisung hatte, langjährige Mitarbeiter zu kündigen oder ihnen Änderungskündigungen aufzuzwingen - weil sie zu teuer wurden. Andere berichten, dass ihnen ständig vorgerechnet würde, wie hoch die Personalkosten sind oder wie teuer "Krankmacher" das Unternehmen kommen. "Wer das Spiel nicht mitmacht, darf gehen", sagt ein Ex-Mitarbeiter. Oder muss in die Zentrale in Ponholz bei Regensburg zum "Kritikgespräch". Oder zu sogenannten "Fürsorgegesprächen", etwa nach langer Krankheit.

Sozialwissenschaftler und Volkswirt Stefan Sell, Professor an der Hochschule Remagen/Koblenz (im Video 23:28) beschreibt das "System Netto" als "militaristische Organisationsstruktur, in der äußerst rigide von oben nach unten durchregiert wird." Diese Strukturen seien schon "fast pathologisch". Sell: "Weil der Druck, der oben an der Führungsspitze erzeugt wird, über ein abgestuftes System von Führungskräften bis in jede Filiale hinunter dringt." Und dies erzeuge viel menschliches Leid und ausgebrannte Mitarbeiter, vor allem in den unteren Rängen.

Die Konzernmutter Edeka ignoriere die Probleme, kritisiert Andreas Straub, Autor des Buches "Die Billigmacher" (Min 22:10). Solange die aggressive Discountertochter Netto Gewinne abführe (2014 sollen es 170 Millionen Euro gewesen sein), profitiere der Konzern. Straub fordert, dass Edeka genauer hinschaut und die Vorwürfe der Mitarbeiter ernst nimmt. Auch im eigenen Interesse: Denn langfristig könne Netto Edeka durchaus ein Imageproblem bescheren. Auf Anfrage des SWR verweigert Edeka jedoch eine Stellungnahme und verweist auf die Netto-Pressestelle.

Und Netto streitet sämtliche Vorwürfe ab. Die schriftlichen Stellungnahmen zu den erwähnten Fällen blendet der SWR ein. So erklärt der Discounter: "Es gehört zu unseren zentralen Unternehmensvorgaben, dass alle zu leistenden Überstunden im Vorfeld abgesprochen sowie genehmigt und entsprechend vergütet bzw. ausgeglichen werden." Die geschilderten Fälle ließen sich anhand der vorliegenden Unterlagen nicht nachvollziehen. Führungskräfte würden angewiesen, sich an die gesetzlich vorgegebene Arbeitszeit zu halten und geleistete Überstunden zu bezahlen. Stets würden tarifliche und gesetzliche Rahmenbedingungen eingehalten. Der Mitarbeitereinsatz richte sich nach den "Anforderungen des jeweiligen Filialstandortes und der zu erwartenden Kundenfrequenz".

In einer Stellungnahme zum Film, die der BR nach der Ausstrahlung erhalten hat, weist das Unternehmen besonders den Vorwurf zurück, das Arbeitsagentur-Programm zu nutzen, um mit Steuergeldern Mitarbeiter zu bezahlen. Stattdessen stellt sich der Discounter als fairer Arbeitgeber dar, der jungen Menschen innerhalb des sogenannten EQJ-Programms eine Chance biete, insbesondere Ausbildungssuchenden, die sich nur schwer im Arbeitsmarkt integrieren könnten. Ein großer Teil der EQJ-ler habe im Anschluss einen festen Arbeits- oder Ausbildungsplatz bei Netto erhalten. Netto schreibt: "Unsere Führungskräfte werden von uns angewiesen, die gesetzlich vorgegebene Arbeitszeit und die Bezahlung der geleisteten Überstunden bei allen Mitarbeitern zwingend einzuhalten. (...) Wir bieten unseren Mitarbeitern einen sicheren Arbeitsplatz und legen großen Wert auf einen partnerschaftlichen und offenen Umgang. Netto Marken-Discount hat zudem flächendeckende Betriebsratsstrukturen. Neben dem Betriebsrat steht unseren Mitarbeitern ein Ombudsmann zur Verfügung, an den sie sich jederzeit vertraulich wenden können."

Wenn Medien berichten, dass Konzerne ihre Mitarbeiter schlecht behandeln, dann sorgt das zwar für vorübergehende Entrüstung und wohl auch eine Imagedelle - siehe Amazon - aber meist passiert auch nicht mehr. Solange Kunden von dem System profitieren, das ihnen günstige Preise garantiert, und solange sie nicht direkt von Missständen betroffen sind, wie im Fall Burger King, werden sie auch weiterhin bei Netto einkaufen. Trotz der "militaristischen Strukturen" im Hintergrund. Wirklich bewegen würde sich Netto vermutlich nur, wenn Konzernmutter Edeka verstärkt Druck ausübt. Denn der Marktführer im Lebensmitteleinzelhandel hat viel in sein Image investiert, wirbt mit "Liebe zu Lebensmitteln" und Nachhaltigkeit. Aber dazu gehört auch die "Liebe" zu engagierten Mitarbeitern.    


Autor: Frauke Schobelt

koordiniert und steuert als Newschefin der W&V den täglichen Newsdienst und schreibt selber über alles Mögliche in den Kanälen von W&V Online. Sie hat ein Faible für nationale und internationale Kampagnen, Markengeschichten, die "Kreation des Tages" und die Nordsee. Und für den Kaffeeautomaten. Seit 2000 im Verlag W&V.