Thomas Kochs Neujahrsansprache 2017:
"Marketingchefs, die sich damit zufrieden geben, tun mir leid"
Im vergangenen Jahr haben wir wahrscheinlich mehr gelernt, als in den letzten fünf Jahren zusammen. Das ist eine feine Erkenntnis, findet W&V-Kolumnist Thomas Koch. Warum 2017 ein richtig gutes Jahr werden kann und schlechte Marketingchefs hier nicht weiterlesen müssen.
Im vergangenen Jahr haben wir wahrscheinlich mehr gelernt, als in den letzten fünf Jahren zusammen. Das ist eine feine Erkenntnis. Wenn wir das Gelernte 2017 umsetzen, könnte es ein richtig gutes Jahr für die Branche werden.
Wir haben gelernt, dass Print doch nicht stirbt. Die Printmedien können wir getrost wieder auf die To-Do-Liste setzen. Nicht einmal das Fernsehen ist gestorben. Es geht dem größten Bewegtbildmedium so gut wie selten zuvor. Die Menschen hören immer noch Radio und gehen immer noch ins Kino. Die Außenwerbung strotzt vor Selbstbewusstsein. Nur die Gelben Seiten sind durch Google ersetzt worden.
Wo ist die gewaltige Disruption geblieben, die man uns versprochen hatte? Keine Ahnung… Sie ist zumindest in der Medienbranche nur schwer zu erkennen. Na gut, wir haben Digitalisierung. (Klingt irgendwie nach "wir haben Schnupfen".) Um die digitalen Medien ist es 2016 merklich ruhiger geworden. Zugegeben, sie waren in den letzten Jahren ein wenig zu laut. Nach der allgemeinen Enttäuschung darüber, dass sie die Medien- und Werbewelt zwar verändert, aber nicht gerettet haben, tut ein wenig Stille ganz gut.
Dennoch gab es auf Seiten der Digital Natives einen regelrechten Aufschrei, als der Zukunftsforscher Matthias Horx in einem dpa-Interview behauptete, der Trend Digitalisierung würde überschätzt und die ganze Digitalisierung übertrieben. Zügig holte man sein Zitat aus dem Jahre 2010 hervor, als er orakelte: "Von Facebook wird in fünf bis sechs Jahren kein Mensch mehr reden".
Ok, das war Unsinn. Auch Zukunftsforscher können irren. Allerdings entging den Kritikern vor lauter Häme, dass Horx etwas vermutlich Wichtiges und Relevantes vorhersieht: Den Trend zur Achtsamkeit. Er spricht von einem bewussten "Rückzug vom Gelärme der Welt, von den hysterischen Übertreibungen. Wir wollen mehr im Leben sein, wir wollen Gefühle und Zwischenmenschlichkeit spüren."
Digital - einfach nur ein gutes Tool
Horx meint damit, dass wir die Kontrolle über den eigenen Mediengebrauch zurückzugewinnen. Digitalisierung sei bestenfalls ein gutes Instrument zur Ermächtigung von Kunden und Mitarbeitern. Und überhaupt stünde der Mensch im Mittelpunkt. Er, der Homo Sapiens, spiele auch künftig die Hauptrolle, insbesondere im kreativen Bereich. Was die Kreativen erfreuen dürfte, die allesamt befürchten mussten, schon bald von Robotern ersetzt zu werden.
Jörg Blumtritt bläst ins gleiche Horn. In seinem lesenswerten Post schreibt er vom Ende des Medien-Fastfoods, von einer aufkommenden, neuen Generation von Medien und prognostiziert mutig: "2017 wird das Jahr der Slow Media."
Das sollte uns aufhorchen lassen. Die Digitalisierung hatte uns reichlich falsche Fährten untergeschoben: Dass plötzlich alles messbar sei, dass Big Data und Algorithmen den Konsumenten steuerbar machen, dass die digitale Freilegung der Customer Journey uns zu willenlosen Robotern der Konsumindustrie macht. Cookies auslegen, Pixel setzen, Reklame ausliefern - 1, 2, 3, fertig ist der Umsatz.
Dass das nicht ganz sein kann, weiß jeder, der den Spuk auch nur ansatzweise zu Ende denkt. Wenn alle Big Data und Algorithmen einsetzen, kann nicht jeder seinen Marktanteil alleine damit steigern. In allen mir bekannten Märkten endet die Addition aller Marktanteile bei 100 Prozent.
Programmatic aus der Hölle
Wenn dann ein Mediamann vom Range eines Paul Remitz um die Ecke kommt und behauptet: "Alle Medien werden digital, alle digitalen Medien werden adressable, alles, was adressable ist, wird programmatisch", merkt man, wie sehr sich auch die Mediaagenturen im digitalen Dschungel verrennen. Wir wissen zwar nicht, in welchen Zeitdimensionen Paul Remitz denkt, aber er meint gewiss nicht das Jahr 2017. Nicht einmal 2022 kann er gemeint haben. Sollte sich seine Aussage jedoch auf das Jahr 2067 beziehen, dann habe ich ihm - mea culpa - Unrecht getan.
Wer dennoch an die Allmacht von Programmatic glaubt, dem sei zur abendlichen Horror-Lektüre der jüngste Leak zum Thema Ad Fraud ans Herz gelegt: "Methbot" saugt, völlig unbemerkt von Agenturen und deren zahlender Kundschaft, mit gefakten Video Ad Views täglich 5 Millionen Dollar aus dem Markt ab. Und das ist erst der Anfang.
Menschen sind keine Pixel
Für diejenigen von Ihnen, die im Jahr 2017 leben und in diesem Jahr Insights zur erfolgreichen Ansprache der Endverbraucher suchen, empfehle ich einen Blick auf die Wirklichkeit. In dieser Wirklichkeit sehe ich Menschen. Menschen, die genervt sind vom "Gelärme der Welt", von der Hysterie der digitalen Medien, vom Generve der digitalen Werbung auf ihren Desktops und Smartphones.
Menschen sind weder Pixel, noch Cookies, noch Klickvieh. Und sie wollen auch nicht als solche behandelt werden. Sie wollen geachtet und beachtet werden. Wir sollten Achtung und Respekt haben vor den Menschen, die unsere Produkte kaufen. Respekt, so schreibt Wikipedia, "bezeichnet eine Form der Wertschätzung, Aufmerksamkeit und Ehrerbietung gegenüber einem anderen Lebewesen". Das wichtigste Wort in diesem Satz ist: Lebewesen.
Frage: Können Maschinen kreative Strategien entwickeln, um Lebewesen zu erreichen? Nein. Nächste Frage: Können Maschinen individuelle, unterscheidbare Media-Mix-Strategien und Mediapläne entwickeln, um Lebewesen anzusprechen? Nein. Maschinen entwickeln bestenfalls Standardpläne zur Erreichung von Standardusern. Daraus entstehen folglich Standardlösungen - und Standardergebnisse. Also Stillstand. Also Schnauze.
Bitte nicht weiterlesen
Marketingentscheider, die sich damit zufrieden geben, tun mir leid. Andererseits sollten möglichst viele diesen digitalen Irrweg beschreiten, damit der Weg frei wird für die spektakulären Erfolge, die sich erzielen lassen, wenn Menschen Strategien und Pläne entwickeln, die die Lebewesen auf der Verbraucherseite ernst nehmen und respektieren. Daher hoffe ich inständig, dass dieser Post nicht von zu allzu vielen Marketingchefs gelesen wird.
In dieser Wirklichkeit sehe ich übrigens auch sehr viele analoge Medien, die seit der Digitalisierung weder ihre Funktion, noch ihren Stellenwert für die Menschen verloren haben. Im Schnitt sah 2016 jeder deutsche Fernsehzuschauer täglich 223 Minuten fern, ebenso lange wie 2015. Die Zeitungen steigerten ihre crossmediale Reichweite auf 86 Prozent und ihre Print-Werbeumsätze um 4 Prozent. Viele Zeitschriften liegen wieder im Plus. Radio schafft eine Umsatzsteigerung von 8 Prozent. Auch die Außenwerbung legt 2016 deutlich stärker zu als Online und Mobile zusammen. Beruhigend zu wissen, dass da draußen in der Werbelandschaft noch Experten sitzen, die ihr Handwerk verstehen.
2017 kann also richtig gut werden. Wenn wir nicht auf die falschen Propheten hören. Sondern auf unseren gesunden Menschverstand. In diesem Sinne wünsche ich ein erfolgreiches, neues Kommunikationsjahr.