Streitschrift "Die Wahrheit" - Wo die Hirschen recht haben, und wo nicht
Lasst uns streiten: Die Agentur Zum goldenen Hirschen hat unter dem Titel "Die Wahrheit“ eine Streitschrift über Kommunikation im postdigitalen Zeitalter veröffentlicht. W&V Online hat sich mit den Thesen auseinandergesetzt.
Die Agentur Zum goldenen Hirschen hat unter dem Titel "Die Wahrheit“ eine Streitschrift über die Kommunikation im postdigitalen Zeitalter veröffentlicht. Die W&V-Online-Redaktion hat sich mit den darin enthaltenen zehn Thesen (zu finden hier im Internet) einmal genauer auseinandergesetzt.
1. Wir werden immer dümmer
"Wir werden nicht wirklich dümmer. Wir fühlen uns nur dümmer", heißt es in der Streitschrift am Anfang, bevor die Autoren dann nach genauerer Betrachtung doch zu dem Schluss kommen "Wir fühlen uns dümmer. Also werden wir dümmer."
Einspruch: Im Internetzeitalter sind die Verbraucher so gut informiert wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Was das Verkaufen von Produkten richtig kompliziert machen kann. Aber liebe Hirschen, ihr habt natürlich trotzdem recht. Klar: Dumm und gut informiert ist kein Widerspruch, sondern nur eine besonders anstrengende Kombination. Im Grunde verhält es sich (wie ihr richtig bemerkt) mit Computer und Internet genauso wie mit TV und Radio: Die Schlauen werden schlauer, die Dummen dümmer. Diese Analyse trifft es am besten - und hat obendrein den Vorteil, dass sich dabei jeder selbst zu den Schlauen rechnen darf, ohne es näher hinterfragen zu müssen.
2. Wir sind alle nackt
Nichts bleibt geheim. Alles kommt früher oder später sowieso irgendwie raus. Ganz so ist es zwar noch nicht. Aber fast. Lügen bekommen im Zeitalter von Wikileaks und Facebook immer kürzere Beine. Und das ist auch gut so. Die in früheren Jahren viel gestellte und häufig diskutierte Frage, ob Werbung lügen darf, stellt sich überhaupt nicht mehr. Wer lügt, wird das ziemlich schnell sehr stark bereuen.
3. Alle sind mächtiger als wir
Stichwort Schwarmintelligenz. Sie führt für Kommunikatoren und Marken zu einem zunehmenden Kontrollverlust. Damit muss man umgehen können. Liebe Hirschen, hier sind wir mit euch völlig d'accord. Wir möchten allerdings anfügen: Als Agentur oder Unternehmen muss man daraus auch die nötigen Schlüsse ziehen. Die Abläufe, die Art zu arbeiten und die Organisation müssen sich von Grund auf verändern.
4. Ideen gibt's umsonst
Traurig, aber wahr!
Unter Punkt 10 beschreibt ihr später ja Gott sei Dank noch, warum die Agenturen dennoch nicht einpacken müssen, sondern heute und in Zukunft immer noch sehr dringend gebraucht werden.
5. Es ändert sich nichts
EINE LAHME GESCHICHTE BLEIBT EINE LAHME GESCHICHTE, OB IM FERNSEHEN ODER IM NETZ. Danke für diese zwar banale, aber sehr richtige Feststellung. Darüber hinaus schreibt ihr unter diesem Punkt noch: "Die Welt wird immer komplizierter. Aber alle gucken immer noch Nachrichten."
Einspruch, liebe Hirschen: Da war bei euch wohl der Wunsch der Vater des Gedankens. Hättet ihr tatsächlich recht, wäre es um die Konsumstimmung in Deutschland wahrscheinlich wesentlich schlechter bestellt.
6. Es ändert sich alles
Internet, Mobilität, ständige Erreichbarkeit und soziale Netzwerke schaffen einen neuen Menschentypus. Facebook, Google+ und Twitter machen den Menschen laut der Streitschrift "kurzatmiger, schneller, offener, indiskreter, technisch versierter, flexibler und multitasking-fähiger." Gleichzeitig werde die Welt - was zunächst wie ein Widerspruch aussieht - gleichzeitig oberflächlicher und tiefgründiger. Gute Beschreibung!
7. Wenn du nichts zu sagen hast, bloß nicht singen!
Viele Marken begreifen nicht, dass sie auf Facebook eigentlich nur stören. Deshalb habt ihr natürlich völlig recht, wenn ihr behauptet: Man muss als Marke "einen wirklich guten Grund haben, jemanden mit den eigenen Botschaften ungestraft zu belästigen." Und wenn es tatsächlich solche Gründe gibt, dann heißt es: glaubhaft sein und nicht einfach so im Schwarm mitschwimmen. Genau so ist es.
8. Sei interessant, sonst stirbst du
Nun kommen wir langsam in medias res. Das, was viele Unternehmen bzw. deren Marketing- oder PR-Verantwortlichen am liebsten kommunizieren, mag zwar den Firmenvorstand interessieren oder den einen oder anderen Entwicklungsingenieur. Ihre Zielgruppe aber lässt es völlig kalt - die meisten ignorieren es nicht einmal. Schade ist, dass auch den Agenturen häufig nicht viel mehr einfällt, was die Werbung am Ende überraschender, interessanter und für die Zielgruppe relevanter machen würde.
9. Unsere Zukunft: Mehr Sein als Schein
Das betrifft zunächst einmal die Unternehmen selbst. "Glänzend lackiert und perfekt geschminkt reicht nicht mehr." Guttenberg lässt grüßen. Denn: Intelligenz schlägt Glamour. Ein "gebrandeter" Facebook-Joke hilft der Marke ebenso wenig weiter wie ein billiges Greenwashing-Konzept oder ein vermeintlich cooler Anstrich.
"Don't say, you are cool. Be cool." Nur so kann es am Ende funktionieren. Doch dafür braucht man die richtigen Leute. Stichwort: War of Talents.
10. Campaigning - Next Generation
Das betrifft die Agenturen in ihrem Kern. Ideen gibt es heute praktisch für umsonst. Doch in der Welt von heute geht es nicht um irgendwelche lustigen Ideen (auch wenn das viele glauben). Es geht um hochintelligente, kreative Konzepte. Vor allem geht es auch - das sei in Richtung Auftraggeber gesagt - um ein langfristiges Konzept. Siehe Apple. Nie war Kreativität so wichtig wie heute. Eine gute Agentur ist viel entscheidender für die Wertschöpfung eines Unternehmens als irgendeine Unternehmensberatung, die nach Einsparpotenzialen sucht.
Liebe Hirschen, ihr bewegt Euch mit Eurer Streitschrift durchaus sehr nahe an der Wahrheit. Lasst es uns so sagen:
Die Strategen müssen in Zukunft viel kreativer werden, und die Kreativen dafür ein bisschen strategischer.