Giovanni di Lorenzo im Interview:
"Zeit"-Chef: "Wir haben in den Abgrund geschaut"
Deutschlands große Medienmarken ächzen unter der Printkrise; nur die "Zeit" liefert immer neue Auflagen- und Umsatzrekorde. Wie schafft man das? Was macht die "Zeit" anders? Was hat sie aus der eigenen Krise gelernt? Chefredakteur Giovanni di Lorenzo erklärt es im großen W&V-Interview mit Karsten Lohmeyer.
Spricht man dieser Tage mit Print-Chefredakteuren und -Managern, hört man normalerweise nur wenig Erfreuliches. Außer, es geht um die "Zeit". Die Traditionsmarke meldet immer neue Auflagen- und Umsatzrekorde. Was macht die "Zeit" anders? Darüber hat W&V-Autor und Blogger Karsten Lohmeyer mit Giovanni di Lorenzo gesprochen.
Herr di Lorenzo, alles redet von der Print-Krise, nur Die Zeit rast von einem Erfolg zum anderen. Was machen Sie anders als die anderen?
Diese Erwartungen muss ich zunächst einmal stark dämpfen. Dass wir uns so lange gegen den Trend behaupten konnten, ist nämlich keine Garantie, dass wir das auch fortsetzen werden. Auch wir können uns dem Einbruch der Verkäufe am Kiosk nicht entziehen. Aber es stimmt, dass wir viele gute Jahre erlebt haben. Sowohl schon meine Vorgänger als auch ich waren gezwungen, an vielen Schrauben zu drehen, um die "Zeit" radikal zu erneuern. Und das zu einem Zeitpunkt, zu dem niemand das Internet für irgendwas verantwortlich machen konnte.
Sie meinen die schwere wirtschaftliche Krise der Zeit zum Zeitpunkt Ihres Antritts als Chefredakteur.
Das war schon davor: Wir haben zur Jahrtausendwende in den Abgrund geschaut. Ich glaube, dass uns dieser Schock und der Erneuerungsdruck in Bewegung gehalten haben. Wir haben seitdem nicht aufgehört, immer wieder zu justieren.
Warum muss man sich ständig bewegen?
Nun, radikale Kurswechsel greifen bei Zeitungen fast nie. Man muss die Veränderungen über einen sehr langen Zeitraum strecken und so dosieren, dass man seine Stammleser nicht vergrault. Wenn man zu spät und zu plötzlich reagiert, wirkt es wie Panik, und die Leser empfinden das als Verrat an der Marke.
Was haben Sie an der Marke "Zeit" geändert?
Als ich vor rund zehn Jahren als Chefredakteur der "Zeit" angefangen habe, habe ich angekündigt, dass ich alle Traditionen der "Zeit" gerne und mit großem Stolz weiterführen werde – mit einer Ausnahme. Ich wollte mit dem Leitsatz brechen, „wir machen die Zeitung, die uns gefällt“.
Wenn Sie mit diesem Leitsatz gebrochen haben, welche Zeitung machen Sie dann heute?
Natürlich noch immer eine, die uns gefällt. Aber der Satz ist in seiner Reinkultur die Lizenz zu jeder Form von Redaktionsautismus. Wir sehen uns deshalb sehr genau an, für wen wir unser Blatt machen und wie es die Leute finden. Deshalb haben wir mit Readerscan angefangen und eine ganze andere Reihe von Maßnahmen ergriffen, um diejenigen kennenzulernen, für die wir unsere Zeitung machen.
Welche Erkenntnisse haben Sie aus diesem Kennenlernen des "Zeit"-Lesers gewonnen?
Die "Zeit"-Leser sind fantastisch. Einige ihrer Auskünfte waren es nicht. Es gibt Artikel, die im Laufe der Lektüre fast alle ihre Leser verlieren. Und es gibt sogar Texte, die kein einziger Mensch liest: Die Quote liegt bei null komma null. Das ist garantiert nicht im Sinne des Verfassers.
Welche Texte wurden überhaupt nicht gelesen?
Artikel ohne Einladung zum Lesen. Also mit einem einzigen Wort als Überschrift, ohne Bild und erklärende Zeile.
Was haben Sie noch über die Marke "Zeit" herausgefunden?
Es gab zwei ganz wichtige Erkenntnisse: Erstens erwarten die Leser von der "Zeit" eine strikte Überparteilichkeit. Sie wollen nicht das Gefühl haben, dass wir für einen bestimmten Politiker oder eine bestimmte Partei eine Lanze brechen. Zweitens wurde uns bescheinigt, dass wir uns in 50 Jahren nicht verändert haben. Zunächst war das ein kleiner Schock, wir haben ja keinen Stein auf dem anderen gelassen. Dann aber haben wir begriffen, dass diese Wahrnehmung ein großes Kompliment ist: Wir haben trotz aller Veränderungen den Markenkern nicht verraten und haben offenbar mit den Veränderungen unserer Leserschaft Schritt gehalten.
Wir treffen uns im Erdgeschoss im Aufzug und ich habe noch nie von der "Zeit" gehört. Wie erklären Sie mir bis zum dritten Stock, was den Markenkern Ihrer Zeitung ausmacht?
Die "Zeit" ist überraschend und wirklich liberal – in dem Sinne, dass wir den Lesern Mittel an die Hand geben, damit sie sich selbst ein Urteil bilden können. Wir schaffen Raum für sehr unterschiedliche Ansichten. Und wir stehen für Unabhängigkeit, Tiefe und Glaubwürdigkeit.
Das könnte man ebenfalls von der "Süddeutschen Zeitung" sagen, Ihrem früheren Arbeitgeber, in deren Verlag auch W&V erscheint. Doch die "SZ" hat im Gegensatz zur "Zeit" mit Erlös- und Vertriebsproblemen zu kämpfen.
Das kann man der "SZ" nicht alleine anlasten, sondern das hat strukturelle Gründe. Und die "SZ" kann nach wie vor großartige Erfolge feiern, besonders auf der Seite Drei und im investigativen Bereich. Daran arbeiten auch wir mit großem Nachdruck.
Wieso ist der investigative Journalismus so wichtig?
Er kommt dem großen Bedürfnis nach Transparenz entgegen. Die Menschen reagieren extrem allergisch auf Machenschaften und Seilschaften, die im Obskuren bleiben. Investigativer Journalismus holt sie ans Licht. Das hat sehr viel mit Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit zu tun. Eine Zeitung, die Angst hat, kann das natürlich nicht leisten. Aber bei aller Begeisterung für das Investigative dürfen wir Journalisten auch nicht übermütig werden: Bei der täglichen Jagd nach dem nächsten Skandal neigt unsere Branche leider manchmal dazu, jedes Maß zu verlieren. Auch in der investigativen Arbeit muss Fairness ein wichtiges Gebot sein.
Hätten Sie angesichts solcher Aussagen, nicht auch gerne Ex-"Spiegel"-Chefredakteur Georg Mascolo für die "Zeit" gewonnen, der gerade ein Investigativ-Team für "SZ", NDR und WDR aufbaut?
Wir haben selbst sehr gute Leute, aber mir gefällt seine Arbeit.
Was ist die wichtigste Erneuerungs-Entscheidung, die Sie in Ihren Jahren als Chefredakteur der "Zeit" getroffen haben?
Zwei Entscheidungen haben uns sehr geholfen: Die eine war das Projekt "Zeit Österreich", das eine wirkliche Erfolgsgeschichte ist. Das war die Initialzündung für weitere Experimente wie die Schweiz-Seiten und jetzt den Lokalteil in Hamburg. Die zweite wichtige Entscheidung war die Wiedereinführung des "Zeit Magazins". Da hat man bis in die höchsten Spitzen der Branche gedacht: Der di Lorenzo und der Esser (Rainer Esser, Geschäftsführer des Zeitverlages. Anm.de. Red.) sind verrückt geworden. Aber das Magazin ist nicht nur eine fantastische journalistische Plattform und eine Brücke zu Lesern, die sich mit anderen Teilen der Zeit schwer getan haben, sondern es hat auch einen neuen Anzeigenmarkt erschlossen.
Und nun der Hamburger Lokalteil, der am 3. April mit sechs neuen Redakteuren startet. Warum?
Nicht um den Platzhirsch "Hamburger Abendblatt" anzugreifen. Den kann man auch nicht angreifen. Aber es gibt erstaunlich viele Menschen in der Stadt, die nicht die Zeit und den Nerv für eine tägliche Lektüre von Lokalnachrichten haben. Sie möchten jedoch einmal in der Woche wissen, was ihre Stadt bewegt, und besondere Tipps erhalten von Menschen, denen sie vertrauen.
Zum Start haben sie sich eine besondere Aktion überlegt…
Ja, "die lange Nacht der Zeit", für die wir die halbe Stadt in Beschlag nehmen werden. Wir haben 14 verschiedene Locations vom Schauspielhaus bis zur Szenekneipe angemietet. Hier werden "Zeit"-Autoren etwas mit anderen Menschen machen. Moritz von Uslar wird zum Beispiel mit Olaf Scholz sprechen, Helmut Schmidt wird Fragen der Leser beantworten. Es wird ein Hate-Poetry geben, bei dem "Zeit"-Redakteure und Journalisten anderer Häuser fremdenfeindliche Leserbriefe vorlesen, mit denen einige von uns heute immer noch konfrontiert werden. Am Abend wird dann schon die "Zeit" vom Donnerstag ausgetragen, mit der Premiere des Lokalteils.
Sie sagen, die Leser möchten Information erhalten von Menschen, denen sie vertrauen. Heißt das, dass der Journalist zur Persönlichkeitsmarke werden soll?
Ich finde es gut, wenn eine Zeitung nicht anonym ist, sondern die Leser mit ihrer Lektüre auch Menschen verbinden, denen sie persönlich verbunden sind. Aber bei der Eigenmarke Journalist hat sich so mancher schon verkalkuliert. Bei Medien wie der "Zeit" ist die Marke immer stärker als jeder, der für sie arbeitet. Das ist geliehene Wirkung.
Wie wichtig ist die Marke Giovanni di Lorenzo für die Marke "Zeit"?
Ich habe keinen Schimmer. Die Begegnungen mit den Lesern sind sehr angenehm. Ich nehme mal an, dass da auch ein gewisses Wohlwollen ist. Aber das muss man sich Ausgabe für Ausgabe neu erobern.
…und Helmut Schmidt?
Er ist vielleicht die einzige Ausnahme von der Regel. Er ist wirklich eine starke Marke für sich und nicht allein mit der "Zeit" zu verbinden. Alle "Zeit"-Redakteure machen die Erfahrung, dass sie immer wieder gefragt werden: Kommt Helmut Schmidt eigentlich persönlich in die Redaktion?
Kommt er persönlich in die Redaktion?
Und ob! Er ist dreimal in der Woche in seinem Büro. Es sei denn, er ist auf Reisen. Außerdem geht er am Freitag in die Politik-Konferenz.
Ich habe gelesen, er wolle jetzt etwas kürzer treten.
Ja, das hat er angekündigt. Aber ich hoffe, er wird sich – wie in der Vergangenheit auch – nicht so genau dran halten.
Es gibt unter dem Dach der "Zeit" den "Zeit"-Shop, die "Zeit"-Editionen, "Zeit"-Reisen, die "Zeit"-Akademie, Tempus Corporate, e-fellows.net und academics.de. Dazu soll jetzt der Bereich Events ausgeweitet werden. Wie wichtig ist es für Sie, neben der "Zeit" diese Beiboote zu haben?
Wichtig ist, dass wir uns nicht allein auf Vertrieb und Anzeigenerlöse verlassen dürfen, um unsere Unabhängigkeit zu erhalten und vor allem unsere aufwändig arbeitende Redaktion zu finanzieren. Deshalb hat der Zeitverlag diese zusätzlichen Standbeine. Ich glaube auch, dass das noch ausbaufähig ist. Aber jeder bei uns weiß, dass dies alles ohne die gedruckte, profitable "Zeit" wenig wert wäre. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns darum kümmern, dass die "Zeit" in einer guten Verfassung ist.
Was ist Zeit Online?
Zeit Online wächst. Nicht nur mit beeindruckenden Zuwächsen bei der Zahl der User, sondern auch bei den Einnahmen. Wir sehen Licht am Ende des Tunnels und hoffen, dass recht bald schwarze Zahlen geschrieben werden. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Redaktionen war noch nie so gut, so eng und so vertrauensvoll wie heute.
Liegt die Zukunft der "Zeit" und vom Journalismus an sich im Digitalen?
Das Wort Digital steht ja für so vieles. Ich glaube, dass es Print lange geben wird. Aber wenn ein großer Teil zukünftig digital, etwa als App, vertrieben wird, schreckt mich das nicht. Wir sind ja keine Holzhändler. Die einzige Frage, die zählt, ist: Wer bezahlt für was? Wenn die Printauflage wegbricht und die digitalen Ausgaben nur sehr geringe Erlöse abwerfen, dann werden nicht nur die Redaktionen dramatisch zurechtgestutzt, sondern dann wird auch der Qualitätsjournalismus leiden, der zu den schönsten Errungenschaften in diesem Land zählt. Mit ihrer Vielfalt, Unabhängigkeit und ihrem Qualitätsanspruch gehören die deutschen Medien für mich zu den besten der Welt.
Sie haben gerade neue Kinospots gestartet. Diesmal werben meist junge Redakteure der Zeit für Ihr Medium. Warum?
Ausgangspunkt der Kampagne war, dass alle Gäste, die uns besuchen, etwa zu Blattkritiken, angesichts unserer jungen Mannschaft ganz verblüfft sind. Viele dieser Kollegen haben auch ganz fantastische persönliche Geschichten. Da war es unser Bestreben, die üblichen Helmut-Schmidt-di-Lorenzo-Spots einmal auszusetzen und Kolleginnen und Kollegen in den Mittelpunkt zu stellen, die mindestens ebenso spannend sind.
Der Journalistenverband Freischreiber hat die Zeit-Spots zum Anlass genommen, eigene Spots aus Sicht freier Journalisten zu drehen. Haben Sie diese gesehen?
Ja klar. Und sie gefielen mir gut. Die Kollegen in der "Zeit"-Redaktion haben das vielfältig geteilt und getaggt.
Teilen und taggen Sie auch?
Ich werde da etwas machen. Gerade für unseren neuen Auftritt bei Facebook. Aber ich werde es nicht so intensiv tun wie die meisten Kollegen bei uns. Das hat aber nichts mit irgendwelchen Vorbehalten gegenüber den sozialen Diensten zu tun, sondern es ist eine reine Selbstschutzmaßnahme. Ich muss einfach darauf achten, dass ich die Flut der täglichen Anfragen über die verschiedensten Kanäle noch beherrschen kann.
Online hat ja auch immer sehr viel damit zu tun, mit dem Leser in eine Debatte zu stürzen. Ein Kollege der "FAZ" sagte gerade, dass er die Kommentare unter seinen Artikeln in der von ihm als "Schnorrerausgabe" bezeichneten Online-Ausgabe der FAZ lieber ignoriert…
Da versuche ich, meine zum Teil sehr skeptischen Kollegen bei der "Zeit" genau zur gegenteiligen Konsequenz zu überreden. Wenn wir Printartikel ins Netz stellen, dann sollten die Kollegen auch auf die Reaktionen eingehen. Ich habe kürzlich, das war an einem Freitagabend, auch noch spät auf die Kommentare zu meinem Leitartikel reagiert. Ich verstehe, dass viele sagen, sie hätten dazu nicht die Zeit. Trotzdem glaube ich, dass man sich die Mühe machen sollte. Man wird dadurch keinesfalls dümmer, im Gegenteil.
Twittern Sie eigentlich?
Ich nutze Twitter gelegentlich. Aber ich twittere noch nicht selbst.
Lesen Sie Blogs?
Ja, auch.
Welche zum Beispiel?
Natürlich lese ich Blogs aus dem Medienbereich. Aber manchmal interessieren mich zum Beispiel auch Modeblogs. Ich kann mich dann vor dem einen oder anderen Magazin-Kollegen bei der "Zeit" wichtigtun mit dem, was ich mir dort angelesen habe.
Die Zeiten haben sich für den Beruf des Journalisten ja dramatisch geändert. Was würden Sie heute einem angehenden Journalisten raten?
Meine Ansage hat sich in den vergangenen Jahren nicht verändert: Unser Beruf ist nach wie vor ein Begabungsberuf, von dem inzwischen auch viele abraten. Wenn man aber die Leidenschaft hat und für den Beruf brennt, wird man auch seinen Weg machen. Das ist ja das Schöne. Man kann in kurzer Zeit viel Einfluss gewinnen und Einblicke in Welten erhalten, die anderen lebenslänglich verschlossen bleiben. Ich kann nur jedem empfehlen, es zu versuchen. Der Königsweg sind nach wie vor die Praktika.
Und wie wählen Sie Ihre Praktikanten und Redakteure aus?
Ich schaue mir jedenfalls keine Abschlüsse an. Die Ausbildung ist mir komplett egal. Ich lese die Textproben und ich achte darauf, ob jemand im Bewerbungsgespräch gewinnend ist. Denn warum soll ein Interview-Partner gerne mit einem Kollegen reden, mit dem ich schon im Einstellungsgespräch Schwierigkeiten habe? Ich selbst bin viele Umwege gegangen, bin von der Schule geflogen, sitzen geblieben, habe irre viel ausprobiert und mir sehr viel Zeit mit dem Abschluss gelassen. Ein früherer Schulleiter von mir hat einmal meine Mutter einbestellt und ihr gesagt: "Ihr Sohn hat alle Anlagen für eine kriminelle Karriere."
Dann sind wir froh, dass Sie Ihr Karriereweg dann doch auf den Chefredakteurs-Sessel der "Zeit" geführt hat. Was wollen Sie eigentlich tun, damit die Marke "Zeit" weiter lebendig bleibt?
Was ich mir persönlich bewahren möchte, ist der Drang, alles auf den Prüfstand zu stellen. Von der Ausrichtung der "Zeit" bis hin zu meiner Art zu führen. Einfach alles. Immer wieder.
Herr di Lorenzo, herzlichen Dank für das Gespräch.
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