Jochen Kalka:
Kommentar: Der Amoklauf der Medien
Qualitätsjournalismus im Ausnahmezustand: Nach dem Amoklauf von Newton haben sich auch deutsche Premium-Medien der Sensationsgier hingegeben. W&V-Chefredakteur Jochen Kalka über "Quoten mit Toten", unkontrollierbare Billignachrichtenware und über Redaktionen, die trotzdem einen guten Job gemacht haben.
Qualitätsjournalismus im Ausnahmezustand: Nach dem Amoklauf von Newton haben sich auch deutsche Premium-Medien der Sensationsgier hingegeben. W&V-Chefredakteur Jochen Kalka über "Quoten mit Toten", unkontrollierbare Billignachrichtenware und über Redaktionen, die trotzdem einen guten Job gemacht haben.
Wir Medien haben wieder einmal alles richtig gemacht – aus Sicht des Amokläufers von Newtown. Wir haben den Massenmörder zum Helden erklärt, uns mit ihm ausgiebig beschäftigt ("er war so intelligent"), ihn abgebildet – auch wenn es zunächst das falsche Foto war, ihn namentlich genannt – auch wenn wir zunächst den falschen Namen kommuniziert hatten.
Wir Medien haben – bis auf wenige Ausnahmen – uns auf die Opfer gestürzt, haben sechsjährige Buben und Mädchen vor die Kamera gezerrt, unschuldige Kinder, die unter Schock standen, weil sie gerade eine Schießerei überlebt haben. "Vor den Interviews haben wir das Einverständnis der Eltern eingeholt", entschuldigte sich CNN. Toll. Das ZDF führte die Kinder einfach so vor.
Doch Stopp! Von verantwortungsvollem Qualitätsjournalismus war vor allem im TV und im Online wenig zu sehen. Tageszeitungen haben endlich bewiesen, dass sie keine Erfüllungsgehilfen von Amokläufern sein müssen. Anders sieht es im Internet aus: All die großen Magazin- und Zeitungsmarken des Landes stellten jedes Gerücht ins Netz, jeden Verdacht, jede Nuance. Da war mal die Mutter des Täters das erste Opfer in der Schule, dann war der Vater tot, dann der Bruder im Wald verhaftet worden. Der Täter wurde mal freiwillig in die Schule gelassen, dann drang er gewaltsam in das Gebäude ein. Waffen hatte er mal verteilt, überall, dann wieder bei sich.
Die gedruckte Ausgabe des "Spiegel" hat in der heutigen Ausgabe den "Gerüchtezirkus des Internet" beschrieben. Wie vermeintliche Massenmörder namentlich genannt und mit wüstesten Verwünschungen beschimpft worden seien. Das waren aber ganz normale Bürger, die nur ähnliche Namen wie der Täter haben. Leider aber reiht sich auch das Hamburger Nachrichtenmagazin in die Reihe der Publikationen, die dann den vermutlich echten Namen des Mörders nennt. Quelle: "Es hieß…". Ein "Es", keine öffentlichen Angaben, sondern ein "Es hieß".
Überraschend positiv fiel am Wochenende Focus.de auf. Diese Nachrichtenseite zeigte – als einzige von uns gefundene Site – kein Kind ungepixelt. Zu dieser Entscheidung gehört Mut. Während alle anderen Online-Medien nach Tränenfotos gieren, pixelt Focus.de. Schließlich handelt es sich um Opfer, um kleine Kinder, die der Welt vorgeführt werden. Ungefragt. Ein unter Schock abgegebenes OK gilt nicht. Aber ein journalistisches Ethos gilt auch nicht mehr viel, so scheint es. Neben Focus.de ist auch noch der Deutschlandfunk positiv aufgefallen. Hier wurde nicht reißerisch, hier wurde sensibel berichtet. Etwa auch dadurch, dass der Deutschlandfunk in den Nachrichten nicht mit der ersten Meldung über die Amoktat informierte.
Wie Printmedien endlich professioneller mit derartigen Gräueltaten umgehen, bewies schon bei dem norwegischen Massenmord die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", die als einziges Blatt in Deutschland den Mörder ganz bewusst nicht abbildete. Und nun, nach Newtown, scheinen dies deutlich mehr Zeitungen zu beherzigen, auch die "Süddeutsche Zeitung". Sie inszeniert diesmal keinen Mörder mit großen Fotos, zeigt aber auch keine Opferbilder von Kindern. Respekt!
Die meisten Medien aber arbeiteten wieder skrupellos. Ganz im Sinne des Amokläufers. So wie sie es in den Jahren zuvor auch schon praktiziert haben. Geradezu perfekt absolvierten Medien ihre Tat im Auftrag des norwegischen Massenmörders, dessen völlig irrelevanten Thesen von vielen Medien ernsthaft diskutiert wurden. Wacht auf, Medien! Besinnt Euch der Verantwortung, die Ihr habt. Besinnt Euch der Werte, die Ihr vertretet. Grenzt Euch von der unkontrollierbaren Billignachrichtenware einiger Internetportale ab, recherchiert gründlich und publiziert nicht jedes Gerücht! Achtet doch bitte auch die Opfer und die Angehörigen der Opferfamilien. Heroisiert keine Massenmörder, nennt keine Mördernamen, zeigt am besten überhaupt keine Mörderfotos! Und schon gar keine Fotos der Opfer.
Ja, das sind fromme Wünsche, die immer noch viel zu vielen Journalisten fremd vorkommen mögen. Vielleicht wird der Grund für diese Postulate dem einen oder anderen Kollegen klar, wenn man folgendes Gedankenspiel macht:
Helfen Sie, liebe Medien-Kollegen, bei der Aktion "Rettet Amokschützen"!
Der nächste Amokschütze soll ganz groß rauskommen. Mit Ihrer Hilfe, liebe Medien. Er möchte auf Seite 1 von "Bild", "Spiegel" und ihrer Heimatzeitung erscheinen. Er möchte als Monster wahrgenommen werden und zieht sich schwarz an, exakt so, wie Sie es lieben, liebe Medien! Er möchte einen neuen Rekord an Toten erzielen, damit Sie, liebe Medien, Rekord-Quoten und –Auflagen erzielen können. Mit Toten-Rekord zum Quoten-Rekord. So lieben Sie es, so lieben es Amokschützen. Machen Sie den nächsten Amokschützen zum Helden! Nennen Sie seinen Namen so oft es geht, zeigen Sie Fotos von ihm! Und zeigen Sie, wie es ihm gelungen ist, kleine Kinder zum Weinen zu bringen. Zoomen Sie jede Träne heran, damit auch Sie das Opfer zum Medien-Opfer machen!
Vielen Dank für Ihre Unterstützung!