Natürlich ist das Buch brandaktuell, und ich glaube mit so wenig Eigenlob wie mir persönlich möglich, dass es noch eine Weile brandaktuell bleiben wird. So haben wir es jedenfalls geschrieben. Dass die Netzdiskussionen immer stärker zu werden scheinen – diesen Eindruck teile ich. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob das die eher subjektive Beobachtung einer hypervernetzten, superselbstreferenziellen Medienblase aus Berufsdigitalisten ist, der wir beide hadernd angehören. Ich wünsche mir, dass "Internet - Segen oder Fluch" dazu beiträgt, dass solche Diskussionen eine Spur produktiver werden. Diese Hoffnung erkenne ich aber selbst aus mehreren unterschiedlichen Gründen als verhältnismäßig fromm.

Welche Rolle spielen die so genannten klassischen Medien dabei?

Sehr spannend finde ich, wer bei solchen Diskussionen hinterher kommt und wer es einfach nicht schafft, relevante Beiträge über die Zusammenfassung "Was bisher geschah" hinaus zu liefern. Das zieht sich quer durch alle Medien. Meine Beobachtung ist, dass sich die klassischen Medien dabei wenig überraschend sehr unterschiedlich anstellen, was Qualität und Absichten angeht. Davon abgesehen: Artikel großer Medien im Netz können digitale Debatten natürlich entzünden oder entscheidend anfachen, die Wirkung erscheint mir aber interessanterweise stärker, wenn etwas Online und Offline publiziert wird. Vielleicht ist es das unausgesprochene Gefühl der Internetpeople, "Oh, das meinen die ernst, das haben sie auch gedruckt". Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein. Das Fernsehen kann vielen, aber nicht allen Themen eine Art bundesweite Relevanz geben, über die Zirkel hinaus, die ohnehin rund um die Uhr am Newstropf hängen deshalb immer alles schon wissen, noch bevor es passiert.  Facebook kann Parallelöffentlichkeiten konstruieren, bei denen man immer wieder erstaunt ist, wie schnell dort Diskussionen sehr groß werden können, obwohl sie auch sehr flach bleiben. Immer deutlicher aber entpuppt sich Twitter als gleichzeitiger Katalysator und Seismograph beinahe aller Diskussionen. Meine These: wenn im Netz etwas passiert, passiert es auch auf Twitter. Der Umkehrschluss: was auf Twitter nicht zündet, wird im Netz nur selten groß.
 
Nehmen wir das Beispiel der "Welt" im Fall Schavan. Die Zeitung sorgte gerade mit einander widersprechenden sehr steilen Thesen für Aufsehen. Mal ist die 60er-Jahre-SPD an der Doktor-Affäre schuld, mal Steve Jobs. Geht so etwas für Sie noch als Debattenanstoß durch oder ist das schon digitales Kasperltheater?

Wer die Satire-Zeitung "Welt" in solchen Kontexten ernst nimmt, ist selbst schuld. Allerdings ist meine Meinung dadurch gefärbt, dass ich den Springer-Verlag insgesamt heftig ablehne.

Die Häme und Aggressivität in manchen Kommentarspalten ist ja manchmal atemberaubend. (Gilt übrigens auch für gedruckte Kommentarspalten, über denen "Leitartikel" steht.) Brauchen wir so etwas wie die "10 Gebote für Urheber und Teilnehmer digitaler Debatten"?

Zehn Gebote nicht, aber ein Buch kann man über über das Großthema Netz und Debatten schon schreiben. Deshalb haben Kathrin Passig und ich das ja auch getan. Ich bin auch kein Freund von Gebots-Forderungen, das bekommt so schnell einen muffig riechenden Hilfsknigge-Charakter. Was Häme und Aggressivität angeht, das ist ein Problem, für das ich keine simple Lösung kenne. Allerdings gibt es auch eine andere Seite. Die Kommentarspalten besonders der klassischen Medien sind im Durchschnitt grauenerregend, und das schon seit vielen Jahren. Ich wundere mich sehr, dass trotzdem nichts verändert wird. Es gibt eine ganze Reihe von kommentarverbessernden Mechanismen, mit denen man zumindest experimentieren könnte. Aber es scheint nichts zu passieren. Fragt man hinter den Kulissen einer Tageszeitung nach, deren Onlinekommentatoren offenbar im rechtschreibresistenten Teil der Hölle rekrutiert werden, hört man sowas wie: "Ach ja, das wissen wir, die Kommentarspalten sind ein grausiger Sumpf, und Sie sollten mal die gar nicht erst freigeschalteten sehen." Aber irgendwie scheint man das akzeptiert zu haben, es hinzunehmen und sich ansonsten kaum drum zu kümmern. Ungefähr so, wie man mit Regenwetter in Hamburg verfährt.

Wie nehmen Sie das digitale Diskussionsklima eigentlich auf internationalen Websites wahr? Sind Amerikaner oder Briten genau so allwissend und urteilsschnell wie die Deutschen, von denen gefühlte 70 Millionen am Stuttgarter Bartresen gestanden und dem Düsseldorfer Promotionsausschuss angehört haben?

Eine Reihe von ernsthaften Artikeln sagt mir, dass die Diskussionsproblematik im englischen Sprachraum auch problematisch ist, aber anders problematisch. Mein Erleben ist dort zu punktuell, als dass ich verallgemeinern könnte, aber die Analysen, auf die ich mich verlasse, zeigen, dass viele Diskursinstrumente ausprobiert, verfeinert, verworfen werden. Und manche haben Erfolg, zumindest teilweise. So etwas wie Quora hatte auf Englisch eine zeitlang eine Qualität und einen Charme, das vermisse ich im Deutschen komplett. Die Besserwisserei gibt es aber genauso auch in anderen Sprachen, auf Deutsch ist ihre hervorstechende Dümmlichkeit für die meisten bloß einfacher zu erkennen. Außer, sie sind selbst damit an der Reihe, klugzuscheißen, die meisten von uns Internetleuten sind ja Altphilologen und Brandanlagentheoretiker.

Komplexe Themen scheinen in Blogs mitunter in besseren publizistischen Händen zu sein als bei klassischen Zeitungs- oder Magazinmarken. Wie lange reden wir eigentlich noch über den Unterschied zwischen Bloggern und "klassischen" Journalisten?

Reden wir? Wer ist wir? Diese Unterscheidung ist künstlich, wenn man sich die prägenden Stimmen der Blogwelt ansieht. Niggemeier, Schrupp, Michal, Bunse, von Gehlen – von zehn beliebigen Bloggern mit mehr als fünf Lesern sind mindestens die Hälfte Journalisten oder doch professionelle Kommunikatoren. Umgekehrt halte ich es für jeden Journalisten eigentlich für essenziell zu bloggen. Wer das nicht tut, handelt nach meiner Überzeugung fahrlässig. Denn das Publikum dort draußen entwickelt sich weiter und entdeckt neue Ansprüche, die eben nicht mit einer pöbelverseuchten Kommentarspalte erschöpft sind. Diesen direkten Kontakt sollte man suchen, wenn man wissen will, für wen man eigentlich schreibt. Aber auch nur dann.

Als ich eben nach längerer Zeit wieder einmal auf saschalobo.com war, ist mir aufgefallen, dass Sie jetzt ein richtiges "Office" mit entsprechender E-Mail-Adresse haben. Gibt es auch eine Sekretärin von Sascha Lobo?

Wie, nach längerer Zeit? Bloß, weil ich Quartalsblogger bin, bedeutet das doch nicht, dass Sie sich so selten auf saschalobo.com blicken lassen! Seit November 2011 arbeite ich mit einer Assistenz zusammen, allerdings praktisch nur auf digitalem Weg. Das war notwendig, um wenigstens die wichtigsten Anfragen einigermaßen zuverlässig beantworten zu können. Das Interneterklärbusiness wird ja nicht kleiner, und ich gehöre leider ohne jede Koketterie zu den schlechtesten Alltagsorganisatoren im deutschsprachigen Raum.

Jetzt ist nur noch eine Frage offen: Bleibt der Iro?

Ja. Warum sollte er nicht? Das ist doch meine Frisur.