Jeder schreibt es sich auf die Fahne, aber kaum einer macht sich die Mühe, es wirklich richtig verstehen zu wollen. "Das ist Tekkie-Kram" klingt häufig zwischen den Zeilen durch. In einer modernen Welt, in der sich offensichtlich immer mehr CEOs dadurch hervortun, Entscheidungen innerhalb von maximal 45 Minuten treffen zu können, kann auch nicht funktionieren, dass der "Tekkie-Kram" wirklich gut durchdacht und verstanden wird  und dass fundierte Entscheidungen getroffen werden können. Doch reden wir wirklich von "Tekkie-Kram"?!

Digital und der Siebdruck

Fragt man die Verantwortlichen "Würden Sie Ihren Siebdrucker Ihre Print-Kampagne konzipieren lassen, nur, weil er Siebdrucken kann?" - "Natürlich nicht" ist dann wie selbstverständlich die Antwort. "Also warum sollte dann digitales Marketing 'Tekkie-Kram' sein, wo wir es doch alle jeden Tag benutzen?". Darauf erfolgt meistens Schweigen. Manchmal kommt auch ein vorsichtiger Vorstoß: "Wir sollten wirklich mal einen Workshop machen, um unsere Entscheider auf den neusten Stand zu bringen". Aber dabei bleibt es dann auch. Und so werden dann auch Entscheidungen in der digitalen Welt bzw. über digitale Budgets getroffen. Wir verharren in der "alten Welt", in der TV und Print die Taktung vorgeben und den Löwenanteil der Budgets erhalten, egal, wie groß der Einfluss der digitalen Kanäle auch sein mag. Man hält immer noch an den alten Regeln fest. Warum? Weil man die alten Regeln von der Pike auf gelernt hat und damit vertraut ist.

Den Gipfel schoss aus meiner Sicht ein hoher Daimler Manager in einem Interview mit der W&V vor ca. drei Jahren (Heft Nr. 11, 18. März 2011) zum Thema "Die Erfolgsmessung ist der Wunde Punkt" ab: Er vertrat die Meinung, dass für das Internet die relevanten Messmethoden fehlen würden. Unglaublich. Mit dieser Aussage bekommt offline Marketing einen Freifahrtschein und digitales Marketing wird einmal mehr verflucht, alles messen zu können - und zu müssen. Man müsste wohl eher sagen sich rechtfertigen zu müssen.

Der Grund ist recht einfach und kompliziert zugleich: Wenn man im digital Business erfolgreich sein möchte, ist ein komplettes Umdenken erforderlich. Ich höre immer wieder Klagen, man würde keine "guten Leute" finden. Das ist sicherlich auf das Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage nach gut ausgebildeten Fachkräften zurückzuführen - jedoch muss den Entscheidern eines Unternehmens auch klar sein, wen er eigentlich sucht bzw. welche Disziplinen ein Kandidat beherrschen soll.

Meistens rate ich "Holen Sie sich einen Analysten und keinen Marketing-Menschen"; denn KPIs dominieren die Online-Welt. Dann werde ich ungläubig angesehen. Korrelationsanalysen, Kunden-Cluster, Tracking-Logiken, Budget-Allokationen und Customer Journey geben den Takt vor. Genau das gilt es zu verinnerlichen. Danach sind die alte und die neue Marketing-Welt gar nicht mehr so verschieden. Allerdings liegt die Diskrepanz zwischen Durchschnitt und Weltklasse ebenso wie bei Restaurants immer an den Zutaten, der Qualität der Arbeit und dem Ausbildungsgrad der Mitarbeiter.

Der Fisch stinkt vom Kopf

Eine alte Weisheit, aber leider immer wieder wahr: Wie soll ein Unternehmen die richtigen Positionen ausschreiben und die passenden Leute an die richtigen Stellen setzen, wenn die Chefetage gar nicht weiß, was eigentlich Sache ist. Wenn die CEOs und Geschäftsführer nicht wissen, wie man sich heute aufstellen muss, dann werden sie sicherlich auch nicht wissen, wie man erfolgreiche Teams zusammenstellt und gewinnbringend arbeiten kann. Und wenn sie es nur halbherzig wollen, dann wird das sicher auch nichts.

Ein Beispiel aus der Praxis: "Wir haben jetzt auch eine App" hieß es vor einigen Jahren. Toll! "Wir haben 100.000 Facebook Fans" - auch sehr, sehr geil. Supergeile Facebook Fans. Und nun? Wie passen App und Facebook ins Unternehmenskonzept und welche Rolle spielen sie eigentlich? Tja, da hört die gute alte gestützte Markenbekanntheit leider auf. Und sie war doch so schön einfach. Nun muss man Cookie für Cookie, Email für Email scannen, um zu erkennen wie man seinen Konsumenten gewinnt, ihn an sich bindet und ihn dann vielleicht noch dazu bringen kann, "brand-ambassador" (sie sind einfach nicht totzukriegen, diese Anglizismen) zu werden. Und nicht gleich "one click away" zur Konkurrenz abzuwandern.

Amazon und Zalando: brave new world

Wie schnell träge Branchen massive Probleme bekommen, zeigen Amazon, Zalando und deren Konkurrenz. Zalando wurde immer müde belächelt: "Die schreiben ja rote Zahlen - dann könnte ich das auch". Ach wirklich, liebe Big Player des deutschen Schuhhandels? Dann schaut euch doch mal die Geschichte von Amazon an. Amazon ging irgendwann an die Börse und machte dann während der New Economy Krise alles platt im Online-, CD- und Buchhandel. Buch.de & Co. sind heute irrelevant. "Amazon schreibt ja rote Zahlen und verbrennt sein Börsengeld". Déjà vu?! Nun ja, heute lesen wir in der Presse, dass der Onlinehandel - diese Modeerscheinung, Sie erinnern sich - und allen voran Amazon, den Innenstädten Probleme macht und bald mit Drohnen kommt. Also, aufwachen, liebe Chefetagen! Das geht so weiter. Und zwar so lange, bis Sie angemessen reagieren!

Dies betrifft aber auch die Hersteller. Viele betreiben nun auch einen eigenen Online Shop. Wie schön. Und deren Wholesale-Partner auch. Die sind besonders wichtig, weil die Hersteller diese Umsätze fest einplanen. Der Wholesale-Partner punktet nun aber mit Preisaktionen, während der Hersteller immer an der unverbindlichen Preisempfehlung festhalten muss. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn das eigene Markenhemd, das bei Otto fast 20 Prozent günstiger angeboten wird, im eigenen Shop nicht läuft.

Und die Multi-Channel-Anbieter kämpfen zudem noch mit dem "Kannibalisierungs-Syndrom"? Wenn der eigene Online-Shop dem stationären Handel Umsätze wegnimmt, dann ist das wirklich ärgerlich! Spätestens jetzt, sollte man beginnen umzudenken und mit Ernsthaftigkeit in die digitale Wirtschaft einlaufen. Ungefähr so ernsthaft, wie Unternehmen eine SAP Einführung betreiben, welche zwei Jahre lang alles auf den Kopf stellt. Oder die Migration auf das neue Kassensystem, die für die Zukunft wichtig ist.

Digital ist kein Projekt sondern eine Strategie

Ich bin überzeugt davon, sollten sich die Entscheider nicht dazu bekennen, die Dinge richtig zu tun, werden sie weiter vor sich hin dümpeln. Für jeden Vertrag konsultieren sie Anwälte, für Schaufenstergestaltung und Printkampagnen werden Profis engagiert, die die Marke nach außen tragen sollen. Und dort, wo die Zukunft liegt, in der digitalen Welt, spielen diese Unternehmen noch in der Kreisliga. Weit entfernt von der Champions League. Warum? Weil das Digitalgeschäft andere Regeln hat, die man befolgen muss, um erfolgreich zu sein.

Digitales Marketing ist eigentlich einfach. Wenn man weiß, worauf man schauen muss, eine Strategie hat, den Jahrmarkt der Eitelkeiten verlässt, mutig handelt wie einst Günter Herz und die Sache ernst nimmt, vor allem auch budgetär. Denn eines ist sicher: Die Modeerscheinung geht nicht mehr vorbei. Auf zu neuen Sphären, liebe CEOs und Vorstände!

René Körting ist Gründer und Geschäftsführer der auf Digitales Marketing spezialisierten Münchener Agentur Exelution.  In den Jahren 1999 bis 2004 baute er das Online-Marketing für die Shops von Tchibo europaweit auf und etablierte Tchibo in dieser Zeit auf Platz 2 der Nielsen Reichweiten-Skala. Danach war Körting als Head of E-Commerce für ein Tchibo-Tochterunternehmen in Paris tätig. Seit der Gründung von Exelution 2005 verantwortet der 39-jährige Beratung und Online-Marketing sowie Business Development der Agentur.


Autor: W&V Gastautor:in

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