Unter dem Lichte der soeben veröffentlichten Beschlüsse aus Berlin müsste man, der Tonalität des GWA folgend, nun wohl von einem "halben Irrsinn" sprechen. Denn die Ausnahmeregeln wurden im Vergleich zum ersten Gesetzesentwurf zumindest ausgeweitet: Der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro gilt nicht für Praktika, die offiziell Teil einer Ausbildung oder eines Studiums sind. Und Praktika bis zu einer Dauer von drei Monaten müssen ebenfalls nicht nach Mindestlohn vergütet werden.

Diese Frist soll aus Sicht des Gesetzgebers die Möglichkeit bieten, die Institution der freiwilligen Praktika nicht ganz abzuschaffen und ausbeuterischen Jahrespraktika trotzdem einen Riegel vorzuschieben. Dass Letztere schon längst verboten gehören, steht außer Frage. Waren doch genau sie es, die ganze Branchen und Unternehmen unter Generalverdacht gestellt haben.

Blickt man jedoch nicht auf die Schwarzen Schafe, sondern auf die überwiegende Anzahl der redlichen und verantwortungsvollen Ausbildungsbetriebe – und zu diesen gehört allen Unkenrufen zum Trotz auch die überwiegende Anzahl von Werbeagenturen – hinterlassen die Entscheidungen aus Berlin Fragezeichen.

Werden Programme nun auf drei Monate verkürzt? Ein tiefer Einblick in einen Job, der nicht selten auch den Einstieg in den Beruf bedeutet, sieht anders aus. Reicht hier die Fristverlängerung auf drei Monate, um negative Effekte tatsächlich auszuschließen?

Bei Scholz & Friends beträgt die durchschnittliche Dauer vergüteter Praktika bisher sechs Monate. Dass potenzielle Talente künftig in gesetzlich verordneten "Turbo-Praktika" die gleichen wertvollen Erfahrungen und Qualifikationen sammeln, ist schwer vorstellbar.

So denken übrigens, glaubt man einschlägigen Umfragen und Panels, auch die Praktikanten selbst: Wenn Praktika als schlecht empfunden werden, hat dies nicht zwingend mit der Bezahlung zu tun, sondern vor allem mit den Aufgaben, die erledigt werden müssen. Und diese wachsen bekanntlich in ihrer Verantwortungsbreite und -tiefe proportional mit der Eingewöhnung in das neue Arbeits- und Aufgabenumfeld.

Die jetzige politische Entscheidung zum Mindestlohn stellt Unternehmen, nicht nur Werbeagenturen, vor die Herausforderung, Praktika jetzt noch konkreter zu definieren. Hierzu zählen Anforderungen, Auswahlkriterien und Betreuung ebenso wie ein noch intensiverer Austausch mit ausgewählten Hochschulen und Akademien.

Darüber hinaus können in Zukunft innovative Ausbildungsformen weiter an Bedeutung gewinnen. So wachsen in Deutschland schon heute duale Studiengänge. Tendenz weiter steigend. Mit diesen Absolventen haben auch wir in den letzten Jahren bereits gute Erfahrungen sammeln können. Und parallel dazu individuelle Trainee-Programme in unserer Agenturgruppe aufgesetzt. Daran gilt es, weiter zu arbeiten.

Gut möglich also, dass in nächster Zeit nicht nur Praktikanten, sondern auch Unternehmen beim erforderlichen Relaunch der Institution Praktikum noch einiges dazulernen werden.

*Roland Bös ist gelernter Werbekaufmann und Diplom-Kommunikationswirt und leitet als Sprecher der Geschäftsführung die Werbeagentur Scholz & Friends in Hamburg. Der Anteil von Praktikanten an der Gesamtmitarbeiterzahl in der Agentur beträgt zurzeit rund acht Prozent. Die Stellen verteilen sich dabei auf die Bereiche Digital, Text, Art, Art Buying, Strategie und Kundenberatung.

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Autor: W&V Redaktion

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